Der elektrische Kuss - Roman
Wachtelkönig und la girafe. Von seinem Versuch, sich mehr und mehr in sich zu versenken. Plötzlich reckte sich Charlotte und beugte sich leicht vor, um Jakob den Kolibri noch einmal streicheln zu lassen. Ihre Brust wölbte sich dabei etwas aus dem Ausschnitt, mehr als Samuel vertragen konnte. Vielleicht hatte er tagsüber auch nur zu wenig Wasser getrunken. Auf jeden Fall tauchten weiße Punkte am Rande seines Gesichtsfeldes auf und bewegten sich in Kreisen. Er spürte seine Kraft in die Beine sacken.
Es reichte nur noch dazu, Charlotte mit einer schnellen Handbewegung den Vogel, der ein einziges, pumpendes ängstliches Herz war, wegzunehmen. Samuel warf ihn in die Luft. Mit singenden Flügelschlägen schwirrte der Kolibri davon, bis er ein schwarzer Punkt und dann nur noch ein Punkt in der Erinnerung war. Ohne ein weiteres Wort stiefelte Samuel zur Scheune.
Nach diesem Erlebnis überlegte Charlotte, ob sie den bebrillten Ältesten der Amischen von der Maiden Creek Gemeinde, der auf sie einen erstaunlich vernünftigen Eindruck gemacht hatte, zurate ziehen sollte. In der Bibel, da war sie sich ziemlich sicher, wurden Kolibris mit keinem Wort erwähnt. Was verführte Samuel also zu seinen Hirngespinsten? Oder deutete sich wie bei ihrem Vater der Beginn einer Gemütskrankheit an? Trotz der Wärme durchlief Charlotte ein Frösteln. Vielleicht galten solche Phantasien bei den Amischen aber auch als Fehltritte in Richtung Welt? Weiß der Teufel, am Ende verhängten sie über Samuel die Meidung. Also verwarf Charlotte diese Idee ganz schnell wieder.
Kapitel 13
D ie blassblaue Decke wurde jetzt jeden Tag nach dem Abendessen ausgebreitet, und Charlotte, Barbara und Sarah nähten. Manchmal redeten sie dabei über die Hochzeit, die für den Herbst nach der Ernte geplant war, die meiste Zeit aber schwiegen sie.
Sie saßen vor dem Steinhaus. Die Kinder spielten Fangen, während der Tag seine Farben dämpfte und das Muhen der Kühe, die auf den umliegenden Wiesen grasten oder dösten, nachließ, dafür das Rascheln im großen Baum lauter wurde. Die Zeit drängte. Wenn erst das Gras gemäht war und das Heu gewendet, Getreide und Flachs geschnitten, gebündelt und in die Scheunen gebracht wurden und jede Hand zählte, um Maiskolben zu pflücken und Rüben zu ziehen, würde ihnen keine freie Stunde mehr bleiben. Dabei gab es noch viele Rauten, die mit auf– und absteigenden Treppen und kleinen, schräglaufenden Quadraten gefüllt werden mussten, damit die Steppdecke für Sarahs ganzes Eheleben und möglichst auch für das einer ihrer Töchter hielt und wärmte. Es stellte sich bald heraus, dass Charlotte am zügigsten und ordentlichsten arbeitete. Trotz der langen Zeit, in der sie nicht mehr genäht hatte, flog ihre Hand, ohne abzusetzen, über den Stoff und reihte die Stiche so eng nebeneinander, dass sie nicht mehr zu unterscheiden waren.
Eine geometrische Harmonie breitete sich aus, die den Augen guttat. Jeder Stich hatte seinen Platz und seine Bedeutung. Fest und sanft zugleich. Alles im Lot. Alles mit Maß. Daran konnte man sich immer vergewissern. Die Ordnung der Decke würde Trost und Stärkung spenden, wenn man nachts stocksteif und klamm voller Sorgen unter ihr lag und im Kopf ein großes Durcheinander herrschte. Zweifelsfrei und kompromisslos schmiegte sie sich an die nackte Haut der Frauen, ihre schwangeren Bäuche, floss in ihr Blut, mischte sich in die Speisen, die sie anrührten und einkochten, ging mit ihren Händen und Küssen auf ihre Kinder über, fädelte sich wieder ein in eine neue Decke, wenn sie die Mitgift für die Töchter nähten.
Die Rauten, Treppen und kleinen Quadrate sollten die Wünsche der amischen Frauen einzäunen. Damit sie nicht überschossen oder begierig aufwallten und die Frauen sich in Sehnsüchten und Dummheiten verloren. Mit der Decke fiel es ihnen leichter, sich in die Gegebenheiten zu schicken. Alles war schlicht, demütig und gut. Alles blieb gut. Mit etwas Glück verwehrte die Decke auch Hexen, Dämonen und Papisten den Zugang zum Haus und half, den geraden Weg durchs Leben im Auge zu behalten. Vor allem wenn man wie Barbara Yoder die Bibel nicht lesen konnte.
Gelegentlich hielten Sarah, die Witwe Yoder und Charlotte in ihrer Arbeit inne, begutachteten das Geschaffte und strichen über die Oberfläche, die unzählige Nähte starrer und starrer werden ließen. Dann dachte allerdings jede der drei Frauen an etwas anderes. Merkwürdigerweise kamen beim Nähen ihre Überlegungen
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