Der elektrische Kuss - Roman
Ameisenkarawane wandern, die einmal, ohne dass sie es gleich merkte, ihre Brust überquert hatte, während sie auf dem Waldboden lag. In dieses stumme Bild zwängte sich urplötzlich die Frage, ob ihr Leben bislang eine Abfolge von zufälligen Begegnungen gewesen war, oder ob ein solch sorgfältig ausgetüfteltes Gitter darunterlag, wie es Johanna Hochstettler vor Jahr und Tag für diese Decke entworfen hatte? Darüber kam sie ins Grübeln.
Konnte sie überhaupt noch darauf hoffen, den unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit zu bereichern? Schmerzhafte Backenzähne mit dem elektrischen Fluidum ruhig zu stellen oder bei Bedarf Funken aus gewitterschwüler Atmosphäre abzuzapfen, war vor nicht langer Zeit ihr vergöttertes Ziel gewesen. Dem war sie hinterher gehechelt, notfalls auch barfuß und durch die Betten käsiger Männer. Jeder Spur, jedem Zweifel nach, nichts als gegeben nehmen. Suchen als Beweis der eigenen Existenz. Nur dann konnte die Welt insgesamt heller werden und sie selbst glücklicher. Sie spürte Felix ’ gequälten Augenaufschlag: Nein, nein, moralischer, gerechter, tugendsamer sollte die Welt werden! Samuel dagegen fürchtete, dass seine Welt durch mehr Wissen ausfranste und verschmutzte und bald so kariert oder getupft sein würde wie die der französischen Modistinnen, Kriegstreiber oder Elektriker.
Auf nicht erklärbare Weise hatte sie Ruhe zwischen den geputzten Schüsseln, den schnurgeraden Nähten und zeitweise auch zwischen Samuels Schenkeln gefunden. Dafür hatte sie die vergangenen Monate so eintönig wie nie zuvor gelebt. Ohne die lustvolle Qual, sich fortwährend entscheiden zu müssen. Der Mond ging auf und unter. Morgen und am letzten Abend und Tag des Lebens. Im amerikanischen Wald tropfte jedes Frühjahr Zuckerwasser aus den Ahornbäumen, wenn man sie anschnitt. Samuel würde pflügen und säen, bis er tot umfiel. Sarah stampfte Sauerkraut ein, Rebecca wurde hier beschützt und geliebt. Diese Gewissheiten gab es. Sah so ein sinnvolles Leben aus? Würde sie damit zufrieden sein?
Alles Quatsch, säuselte Monsieur La Mettries Lästerzunge ihr ins Ohr. Wenn sein Gott ihm nicht dauernd im Wege stehen und ein saures Gewissen machen würde, hätte dieser Herr Hochstettler längst mal wieder mit dir geschlafen. Dass er es gut kann, hat er bewiesen. Sektierer hin oder her. In einer eurer Nächte kam er ja gleich dreimal hintereinander. Respekt, Respekt, ich kenn mich da aus. Aber jetzt? Jetzt himmelt er Vögel an, hört in sich hinein, bis er jeden Furz und jedes Bauchgrimmen für das göttliche Du hält, und lässt seine prachtvolle Maschine verrotten. Nicht dass ich nicht für Toleranz und Religionsfreiheit wäre, aber, liebes Fräulein von Geispitzheim, pardon, Madame von Geispitzheim, Sie sind ja in aller Eile verwitwet, das Leben will gelebt und nicht diskutiert oder gebetet werden. Prall, saftig oder, wie Sie es nennen mögen, elektrifiziert. Wenn Sie mich fragen, Sie bräuchten dringend mal wieder einen richtigen Stromschlag. Ihren hübschen Glauben an die Vernunft gönne ich Ihnen ja, wenn er ihnen Freude bereitet. Aber machen Sie sich nichts vor. Fortschritt, das ist ja auch so eine Religion, so ein Wahn, weil der tapfere kleine Mensch sonst nicht die Gewissheit des Todes aushalten kann. Zum Totlachen! Als wenn man etwas über das eine, kleine Leben hinüberretten könnte. Fortschritt, so ein Witz! Alles bleibt beim Alten, egal ob wir die Dinge unters Mikroskop legen oder mit einer neuen Philosophie überzuckern. Jetzt schauen Sie nicht so erschrocken! Ich mag Sie, doch, doch! Sie sind außerdem klug genug, mich zu verstehen. Also, wenn Sie so weiter machen, dann passiert das, wovor Sie doch schon immer Angst hatten, Ihr Herr Papa ja auch. Sie langweilen sich zu Tode, bevor sie dreißig sind. Das ist viel schlimmer, als mit zweiundvierzig an höllischen Bauchkrämpfen zu krepieren wie ich.
»Herrje, jetzt habe ich mich gestochen.«
Charlotte sprang auf, damit das Blut nicht die Decke besudelte. Mit einem Ruck riss sie einen schmalen Streifen von ihrem Unterrock ab und winkelte ihn straff um ihren Finger. Ihr Herz pochte in ihrer Halsgrube. Und wenn die Witwe oder Sarah La Mettrie gehört hatten? Er redete immer so laut.
Doch Barbara Yoder schaute unbeirrt und sogar sehr zufrieden.
»Das Leben von uns Frauen ist nun mal blutig, das rückt uns näher zum Heiland und seinen Wunden. Wir leiden mit ihm.«
Das Blut quoll weiter aus dem Finger und sickerte schnell durch den
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