Der Engel auf der Fensterbank
zusehen. Das mache ich gern.” Der Engel hatte Jonathan noch nichts von den vielen Tagen, die er auf seiner Fensterbank verbracht hatte, erzählt. Er strich Jonathan über die Hand und durchs Haar, erinnerte sich an das Paar im Café. Er sah Jonathan tief in die Augen, doch dieser schaute nervös weg, setzte sich auf und lehnte sich an den Bettkopf. Michael sah ihn erwartungsvoll an.
“Weißt du”, sagte Jonathan, “bei den Menschen ist es … wenn ein Mann mit einem Mann … es ist nicht unbedingt gut angesehen. Manchmal auch verhasst. Vielleicht solltest du lieber mit einer Frau …”
Michael sah ihn verständnislos an: “Aber ich mag doch dich!” Seine Augen wurden größer. “Oder magst du mich etwa nicht?”
“Doch …”
“Ausgezeichnet!”, der Engel sprang vom Bett auf. “Ich mache Frühstück.” Er entfaltete seine Flügel, streckte sich ausgiebig und rauschte aus dem Zimmer.
Er kam mit einem vollbeladenen Frühstückstablett zurück, dass er auf Jonathans Knien abstellte, bevor er sich neben ihn legte. Jonathan nippte skeptisch am Kaffee, doch er war sehr gut. Michael strahlte. Jonathan war noch nie von einem Mann das Frühstück ans Bett gebracht worden, er hat es auch immer kitschig gefunden, aber jetzt gefiel es ihm. Er schnitt sich ein Brötchen auf.
Michael verfolgte jeden Bissen, den er sich in den Mund steckte, schließlich nahm er sich eine Weintraube. “Köstlich!”
“Du kannst nicht …”
“In letzter Zeit … Das schmeckt auch gut.” Er beugte sich hinüber und küsste Jonathans Mund.
“Das schmeckt nach gar nichts!”
“Oh doch”, Michael öffnete seine Lippen leicht, küsste Jonathan und drang mit seiner Zunge vor. Dann ließ er sich in die Kissen sinken und breitete die Arme aus. “Schön. Im Himmel gibt es keine Betten. Das ist so, wie sagt man, gemütlich.”
“Ja.” Jonathan lehnte sich in die Kissen, aß sein Brötchen und trank den Orangensaft aus, den Michael frisch gepresst hatte.
“Es schneit schon wieder”, Jonathan schaute nach draußen.
Der Engel stand auf und trat ans Fenster. “Schön.” Er öffnete die Flügel, eisige Luft wehte herein. “Ich fliege eine Runde, meine Flügel mal wieder bewegen.” Er wandte sich kurz um, lächelte Jonathan zu, dann stieg er auf die Fensterbank und flog davon.
VI
Am Abend war Michael noch nicht zurück. Jonathan ging spät ins Bett und schlief unruhig. Auch am nächsten Tag tauchte Michael nicht auf. Jonathan begann sich Sorgen zu machen. Am folgenden Tag, immer noch ohne ein Zeichen des Engels, wurde er wütend. Und schließlich, am dritten Tag, enttäuscht. Eine große Leere machte sich in ihm breit und er ging mechanisch seinen Alltagsdingen nach.
So schnell hatte sich der Engel also aus dem Staub gemacht. Ohne ein Wort, eine Nachricht. Wahrscheinlich hatte er im Himmel vorbeigesehen, und es gefiel ihm dort einfach besser. Da war er ja auch zu Hause.
Am fünften Tag stopfte Jonathan endlich seine dreckige Wäsche in die Maschine und öffnete das Badfenster weit. Plötzlich spürte er einen scharfen Luftzug, da war ein Rauschen und ein Schatten. Etwas Großes schoss durchs Fenster, warf ihn um und er fand sich unter einem Berg Federn wieder. Als er sich befreit und seine Gliedmaßen geordnet hatte, hockte ihm Michael gegenüber.
Der schlang seine Arme um ihn: “Jonathan!”
Jonathan entwand sich und stand auf. “Spinnst Du! Was soll das!”
Der Engel sprang auf und fiel ihm um den Hals. “Weißt du, was ich herausgefunden habe?”
“Du warst fünf Tage weg! Fünf!” Jonathan schob Michaels Arme von sich. “Ich dachte du bist verschwunden.”
“Oh”, der Engel starrte ihn mit großen Augen an, “ich war doch nur einen Flügelschlag lang weg.”
“Ich dachte, du kommst nie wieder.” Jonathan schlug die Tür der Waschmaschine zu.
“Ich wusste nicht … es war doch nur ein Moment - ein winziger Bruchteil der Ewigkeit.”
“Nicht für Menschen.” Jonathan wandte sich um und ging wortlos in Wohnzimmer. Der Engel folgte ihm und setzte sich neben ihn auf die Couch.
“Weißt du, was Jonathan bedeutet? ‘Geschenk Gottes’ - ist das nicht schön!”
“Nein.” Jonathan verschränkte die Arme.
“Das ist ja auch nicht so wichtig. Aber das andere.” Michael winkelte ein Bein an und wandte sich Jonathan zu. “Ich habe einen alten, weisen Wächterengel getroffen. Und weißt du, was er mir verraten hat? Engel können zu Menschen werden, wenn sie mit einem Mensch Liebe machen.”
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