Der Engelmacher
genau wie er es am Ende eines Schuljahres mit den Lehrbüchern tat – in gewisser Weise war auch die Bibel nur Lehrstoff für ihn gewesen. Auf dem Gymnasium gab es zudem keinen Bruder Rombout mehr, der mit seinen sanften Gesichtszügen und seiner angenehmen Stimme die Erinnerung an Schwester Marthe lebendig gehalten hätte, und seit er im Internat in eine andere Abteilung gekommen war, gab es in seinem unmittelbaren Umfeld auch keinen Pater Norbert mehr, der ihn mit seinem Stimmvolumen an Schwester Milgitha hätte erinnern können.
Im Grunde genommen war Victor auf dem Gymnasium nicht nur mit seinem Glauben, sondern auch mit seinen Gedanken ins Reine gekommen. Für lange Zeit, nämlich für etwa fünf Jahre. Dann wurden seine Erinnerungen doch wieder geweckt, nicht plötzlich, sondern nach und nach, als würden in seinem Kopf einzelne Saiten in Schwingung versetzt, deren aufeinanderfolgende Klänge schließlich eine wiedererkennbare Melodie ergaben.
Wiederum geschah es bei dem jährlichen Schulausflug. Die Schüler des fünften Jahres Latein besuchten diesmal zunächst das Dreiländereck und dann den Kalvarienberg in La Chapelle. Beim Dreiländereck war Victor noch nie gewesen, aber den anderen Ort kannte er nur allzu gut. Dennoch hatte er nicht die Hand gehoben, als gefragt wurde, wer von den Kindern den Kreuzweg schon einmal abgegangen sei. Er freute sich auch nicht gerade auf den Ausflug. Mit dem Dreiländereck konnte er überhaupt nichts anfangen, und mit dem Leidensweg Christi wollte er nicht noch einmal konfrontiert werden.
Diesmal fuhren die Schüler mit dem Bus. Sie waren eine Gruppe von einundzwanzig Kindern, und niemand wollte neben Victor sitzen. Das fand er nicht schlimm, es fiel ihm nicht einmal auf. Allerdings waren die Plätze vor und hinter ihm besetzt, und kaum war der Bus losgefahren, da tippte ihm Nico Franck, ein hochgewachsener Kerl von siebzehn Jahren, von hinten auf die Schulter.
»Victor, gleich kommen wir bei der Anstalt vorbei.«
Der Junge, der neben Nico Franck saß, beugte sich vor und fügte hinzu: »Genau, und pass mal gut auf, dass die Nonnenschwestern dich nicht sehen, sonst nehmen sie dich noch mit.«
»Und stecken dich zu den Idioten, wo du hingehörst«, sagte Nico.
Das Gelächter, das sich erhob, machte Victor nichts aus, die Worte sehr wohl: Anstalt. Nonnen. Idioten. Drei Saiten fingen in ihm zu schwingen an. Dann ließen die anderen Schüler ihn wieder in Ruhe.
Victor sah aus dem Fenster, aber er bekam kaum etwas mit von der Gegend. Er sah nicht einmal, dass der Bus an seinem eigenen Haus vorbeifuhr.
»Dort wohnt Victor in den Ferien. Sein Vater ist hier Doktor«, sagte sein Latein- und zugleich Klassenlehrer Bruder Thomas so laut, dass die meisten Schüler es mitbekamen.
»Ich dachte, er wohnt in der Anstalt!«, platzte Nico Franck lachend heraus. Er hatte sich aufgerichtet und tippte Victor mit dem Finger an den Kopf.
»Franck, setz dich hin und benimm dich!«, rief Bruder Thomas streng. Das Gelächter legte sich nur langsam.
Die Anstalt. Wieder dieselbe Saite. Der Anfang einer Melodie.
Als der Bus den Gipfel des Vaalserbergs erreicht hatte, stieg Victor erst nach allen anderen aus. Während Herr Robert, der Erdkundelehrer, ein paar Dinge erklärte, sah er sich um. Es war rammelvoll. Dutzende von Touristen bevölkerten das kleine Plateau, auf dem sich lediglich ein Kiosk und ein paar Sitzbänke befanden.
»Sie wollen hier einen Turm bauen, der noch höher ist als der Julianaturm«, sagte der Klassenlehrer. »Der steht ein Stück weiter weg, in den Niederlanden. Wer von euch ist schon mal in den Niederlanden gewesen?«
Victor hörte die Frage nicht. Er dachte an die Anstalt. An die Schwestern. An die Idioten.
Imbezile. Debile. Diese beiden Worte kamen ihm wie von selbst in den Sinn.
»Victor, weiter!«
Die Gruppe von Schülern war bereits in Richtung Dreiländereck aufgebrochen. Victor trottete hinterher.
Ein Betonpfahl. Mehr gab es nicht zu sehen.
»Belgien, Niederlande, Deutschland«, sagte Herr Robert, während er um den Pfahl herumging und mit den Armen Dreiecke bildete.
Victor begriff nicht, was sein Lehrer zu verdeutlichen versuchte. Für seine Verhältnisse war das zu abstrakt. Sein früherer Lehrer, Bruder Rombout, hätte die Grenzen mit einem Stück Kreide auf den Boden gezeichnet, und dann hätte Victor wahrscheinlich gesehen, worum es ging. Nun sah er nichts. Ihm war sowieso nicht danach. Und es wurde nicht besser, als nun auch Bruder Thomas ein
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