Der Engelmacher
paar Worte sagte, die in Victors Innerem etwas lösten.
»Das hier ist das goldene Kalb des Geographen«, sagte der Bruder. Er legte eine Hand auf den Pfahl und die andere auf die Schulter seines Kollegen. »Die plastische Darstellung von etwas, was eigentlich unsichtbar ist. Wie Gott also.«
Die Ironie im Tonfall des Bruders entging Victor. »Goldenes Kalb« hatte er gehört. Und »Gott«. Und plötzlich hörte er wieder eine andere Stimme: » Mo-s-es, Victor. Mit einem runden S. Wie in Seide. «
Er spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Von diesem Augenblick an war er wie weggetreten. Er sah nicht, wie die Schüler aus seiner Klasse um den Pfahl herumliefen und dabei wild mit Armen und Beinen gestikulierten. Er hörte nicht, wie der Erdkundelehrer ihn fragte, ob er auch einmal ins Ausland wolle. Und ebenso wenig hörte er die Stimme von Bruder Thomas, der sagte: »Victor träumt von viel weiteren Reisen. Von den sieben Weltmeeren träumt er.«
Nachdem die Klasse auch noch zum höchsten Punkt der Niederlande gelaufen war, wo drei Grenzpfähle standen, die Bruder Thomas zufolge darauf hinwiesen, wie verzweifelt die Menschen auf der Suche nach einem Halt waren, stiegen die Schüler wieder in den Bus.
»Jetzt fahren wir nach La Chapelle«, sagte Herr Robert. »Zum Kalvarienberg. Bruder Thomas wird etwas über dessen Geschichte erzählen.«
»Am Ende des 18. Jahrhunderts«, fing der Bruder an, »lebte hier ein Junge, der hieß Peter Arnold. Er litt an Epilepsie, an der Fallsucht, und kaufte eines Tages auf dem Markt ein Marienbild, das er am Stamm einer alten Eiche aufhängte …«
»Victor, passt du auf?« Herr Robert hatte sich neben ihn gesetzt und ihn angestoßen.
»Am Stamm einer alten Eiche aufhängte«, antwortete Victor mechanisch.
Der Erdkundelehrer nickte.
»… von seinen Anfällen erlöst wurde«, sagte der Bruder gerade. »Die Klarissen ließen deshalb nahe dieser Eiche eine Wallfahrtskapelle errichten. Ein paar Jahre später geschah dort ein neues Wunder. Frederik Pelzer, ein Junge in eurem Alter, war plötzlich von seiner Geisteskrankheit geheilt, nachdem seine Eltern in der Kapelle für ihn gebetet hatten. Die Schwestern beschlossen daraufhin, neben der Kapelle ein Kloster und ein Sanatorium zu errichten, um so noch mehr Bedürftige zu retten.«
Bedürftige.
Die meisten Worte waren einfach an Victor vorbeigegangen, aber dieses eine hatte sich wie ein Angelhaken in ihm festgesetzt. Seit er aus der Anstalt geholt worden war, hatte er dieses Wort nie wieder gehört.
Lasst uns beten für die Bedürftigen.
So hatte Schwester Milgitha stets das Gebet in der Kapelle begonnen. Die Bedürftigen, das waren sie gewesen, die Patienten.
Das Räderwerk in seinem Kopf begann zu arbeiten. Im regelmäßigen Rhythmus einer Litanei.
Marc Fran ç ois.
Fabian Nadler.
Jean Surmont.
Bei jedem dieser Namen sah er auf Anhieb das Gesicht vor sich.
Nico Baumgarten.
Angelo Venturini.
Egon Weiss.
Er sah, wie Angelo Venturini das Kissen auf das Gesicht von Egon Weiss drückte.
Lasst uns beten für Egon Weiss, der aus diesem Leben geschieden und ins Jenseits eingegangen ist.
Möge seine Seele Frieden finden.
Betest du für Egon? Das ist gut. Dann wird er sicher Frieden finden.
Gott gibt und Gott nimmt, Victor.
Er sah vor sich, wie Schwester Marthe sich umdrehte und wegging. Sie ging, als trage sie ein schweres Kreuz.
Victor wurde auf dem Friedhof der Klosterschwestern gefunden. Er saß auf einer Bank, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet.
Bei der sechsten Station des Kreuzwegs war Herr Robert dahintergekommen, dass Victor sich nicht mehr unter den anderen Schülern befand. Wie lange er schon weg war, wusste niemand. Niemand hatte ihn vermisst.
Bruder Thomas und Schwester Milgitha hatten ihn gefunden. Die Äbtissin des Klosters hatte beim Anblick des Kindes die Hände vor den Mund geschlagen.
»Kennen Sie ihn?«, hatte der Bruder sie gefragt.
Aber sie hatte den Kopf geschüttelt.
»Nein, ich kenne ihn nicht«, hatte sie gesagt. »Ich habe ihn noch nie gesehen. Er wird sich verlaufen haben.«
Da hatte Bruder Thomas den Jungen beim Arm genommen und ihn weggeführt. Victor war folgsam mitgegangen.
Er hatte sich nicht verirrt. Er war nur nicht weitergekommen als bis dorthin, wo man ihn gefunden hatte.
Doktor Karl Hoppe saß nach dem Frühstück am Tisch und las die Zeitung, als sein Sohn in der Küche erschien. Der Junge schenkte sich eine Tasse Milch ein und blieb bei der
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