Der Engelmacher
immer weiter, pausenlos und auf eine so pedantische Art und Weise, dass nur wenige ihm noch folgen konnten oder wollten. Selbst war er sich dessen nicht bewusst, weil kein einziges Signal von außen zu ihm durchdrang. Lediglich wenn der Lehrer ihm mit lauter Stimme befahl, seine Erörterungen zu beenden, leistete er der Aufforderung Folge.
In den Jahren, die Victor auf dem Gymnasium verbrachte, kam seine so genannte Schlampigkeit immer deutlicher zum Vorschein. So jedenfalls interpretierten die Lehrkräfte schon damals die Tatsache, dass er seine schriftlichen Hausaufgaben manchmal nur zur Hälfte gemacht hatte. Einige Lehrer sprachen auch von Faulheit, womit sie der Wahrheit im Grunde näher kamen. Viele Aufgaben bearbeitete Victor schließlich auch deshalb nicht zu Ende, weil er nicht einsah, warum er etwas wiederholen sollte, was er doch schon einmal gelernt hatte, oder warum er irgendwelche Beweise immer wieder ganz genau aufschreiben sollte, obwohl er sie doch im Kopf hatte.
Diese so genannte Schlampigkeit führte in Kombination mit seinem begrenzten Interessenspektrum dazu, dass Victor auf dem Gymnasium ein mittelmäßiger Schüler blieb. In Physik, Chemie und Biologie erzielte er gute Noten, in Latein und den anderen Sprachen lag er im Durchschnitt, aber in Erdkunde, Geschichte und Mathematik bestand er die Prüfungen meist nur mit Müh und Not. In Religion, Musik und Zeichnen hatte er regelmäßig ein Ungenügend im Zeugnis, aber insgesamt war er nie so schlecht, dass er ein Jahr hätte wiederholen müssen. Ein Jahr zu überspringen, wie er es auf der Grundschule getan hatte, war angesichts dieser Ergebnisse allerdings ebenfalls ausgeschlossen. Deshalb brauchte Victor Hoppe sechs Jahre für das Gymnasium, genauso lange wie die meisten Schüler. Aber weil er am Anfang einen Vorsprung gehabt hatte, war er mit sechzehn trotzdem der jüngste Schüler, der am 30. Juni 1961 das Gymnasium der Brüder der Christlichen Schulen in Eupen verließ, um an die Universität zu gehen.
Zu einer neuen Ausfälligkeit, einem neuen Schauspiel war es in diesen sechs Jahren nicht gekommen. Victor war mit sich und seinem Glauben ins Reine gekommen. Ins Reine in dem Sinne, dass keine neuen Einsichten mehr dazu kamen. Gott tat Böses, und Jesus tat Gutes.
Und Jesus war dafür am Ende bestraft worden. Das hatte Victor mit eigenen Augen gesehen. Wer Gutes tat, wurde bestraft.
Das hatte ihm auch die Reaktion von Pater Norbert bestätigt, der ihn vom Kreuz weggezerrt und ihm einige Schläge verpasst hatte. Es war ganz so gewesen, als wäre ein Unwetter hereingebrochen.
»Dafür wird Gott dich bestrafen, Victor Hoppe!«
Das Böse war stets bestrebt, sich denjenigen entgegenzustellen, die Gutes taten. Immer wieder aufs Neue.
Allen Widerständen zum Trotz würde Victor weiter Gutes tun. Sein Ziel blieb es, Arzt zu werden, und von diesem Ziel würde er sich nicht abbringen lassen.
Aber vor dem Bösen musste er auf der Hut sein. Das lag überall auf der Lauer. Das merkte er an seinem Vater. Der war vom Bösen bereits merklich angeschlagen. Als Doktor tat er Gutes, als Vater tat er Böses. Und das Böse breitete sich immer weiter aus. Obschon Victor selten zu Hause war, fand sein Vater jedes Mal wieder einen Grund, auf ihn böse zu werden. Dann schrie er immer lauter, und oft folgten Schläge.
» Womit habe ich dies in Gottes Namen verdient? «
Das rief er oft, und Victor wusste, dass er damit auf das Böse anspielte, das Besitz von ihm ergriffen hatte.
Die Leute im Dorf sagten das auch, wie er eines Tages mitbekommen hatte. Sein Vater war gerade bei einem Hausbesuch, und sie standen am Tor und warteten auf ihn. Victor hatte in seinem Zimmer gesessen und ihre Stimmen durchs Fenster gehört.
»Es steht nicht gut um den Doktor.«
»Es sieht böse aus und wird immer schlimmer.«
Das hatten sie gesagt. Da hatte er genug gewusst.
Victor war fünfzehn, als er dahinterkam, dass die Anstalt, in der er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte, sich in dem kleinen Dorf La Chapelle befand. Auf dem Gymnasium hatte er nur noch wenig an die Anstalt gedacht. Nicht, dass er die Zeit vergessen gehabt hätte, aber es hatte sich lange nichts mehr ereignet, was in seinem Kopf das Räderwerk der Erinnerung in Gang gesetzt hätte. Die früheren Anstöße dazu gab es inzwischen nicht mehr. Die wöchentlichen Messen und die täglichen Gebete gingen spurlos an ihm vorbei. Die Bibel, die ihm so viel gegeben hatte, hatte er endgültig weggeräumt,
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