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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Spüle stehen.
    »Wann hast du mich aus der Anstalt von La Chapelle geholt?«
    Der Schlag traf ihn mit doppelter Wucht. Weil Victor ihm überhaupt eine Frage stellte, und dann ausgerechnet diese.
    »Was hast du gesagt?«, fragte er, scheinbar teilnahmslos. Er schlug eine Seite der Zeitung um und hoffte, dass Victor sich nicht trauen würde, die Frage noch einmal zu stellen.
    Aber er traute sich sehr wohl.
    »Anstalt?«, hörte der Doktor sich selbst antworten. »Wie kommst du denn darauf? Du warst nie in einer Anstalt.«
    Er sah nicht auf, als er das sagte, obwohl er wusste, dass sein Sohn seinen Blick ohnehin nicht erwidert hätte.
    »Aber …«, fing Victor an, »ich war doch bei den Schwestern von …«
    »Nein, Victor, das warst du nicht!«, sagte der Doktor nun mit erhobener Stimme. Er warf die Zeitung auf den Tisch und sah mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf. »Wenn ich es sage, dann ist es so! Ich werde es ja wohl wissen!«
    Sein Sohn blieb noch kurz stehen und dachte offensichtlich nach, dann drehte er sich um. Dabei ließ er die Tasse mit der Milch los. Er schmiss sie nicht wütend zu Boden, nein, er drehte sich einfach um und ließ gleichzeitig die Tasse fallen. Dann lief er weg.
    Karl Hoppe blieb einen kurzen Augenblick verkrampft sitzen, wie festgenagelt. Dann stürzte er seinem Sohn hinterher.
     
    Als Victor ein paar Tage später im Internat seinen Koffer auspackte, fand er darin eine Mappe mit seinem Namen. In der linken oberen Ecke war außerdem der Schriftzug Sanatorium der Klarissen aufgedruckt, gefolgt von einer Adresse in La Chapelle. In der Mappe befand sich kein Brief, lediglich eine Karte mit ein paar Daten und einigen Schwarzweißfotos.
    Victor betrachtete die Fotos. Ungerührt, wie ein Arzt, der schon vieles gesehen hat.
    Dann sah er sich die Karte an. Hinter jedem Datum stand irgendetwas geschrieben. »Debil« las er ein paar Mal. »Kann sprechen. Leider unverständlich«, las er. Auch die letzte Zeile las er. »Entlassen«, stand dort, hinter dem 23. Januar 1950.
    Das Datum setzte ihm doch zu.
     
    ***
     
    Rex Cremer spürte auf Anhieb, dass irgendetwas nicht stimmte. Im Vorfeld der Sitzung waren seine Kollegen ihm aus dem Weg gegangen, und wenn er jemanden angesprochen hatte, hatte der immer nur knapp oder ausweichend geantwortet. Aber in ein paar Minuten würden sie ganz anders reagieren, hatte er zunächst gedacht.
    Unmittelbar nachdem der Rektor die Sitzung eröffnet hatte, meldete Rex sich zu Wort und zeigte die Fotos der sechs Tage alten Embryos vor. Ihm war etwas mulmig zumute, als er erzählte, es seien Embryos von Mäusen, und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als jegliche Reaktion darauf ausblieb. Ihm fiel auf, dass einige der Sitzungsteilnehmer den Rektor ansahen. Der räusperte sich und sagte: »Wir haben bislang noch keinerlei eindeutige Belege. Und wir sehen, dass Sie für Doktor Hoppe einzutreten bereit sind, aber es steht inzwischen zu viel auf dem Spiel. Wir können den Dingen nicht mehr einfach ihren Lauf lassen.«
    »Die Fotos sprechen doch für sich«, sagte Rex, der in seiner eigenen Stimme die von Victor Hoppe durchklingen hörte.
    »Es geht nicht um die Fotos«, sagte der Rektor und fügte sogleich hinzu: »Nicht in erster Linie.«
    Rex schluckte. Er fragte sich, ob der Rektor wusste, dass er in Bezug auf die Fotos log. Bei dem Gedanken lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Langsam wurde ihm bewusst, dass er dabei war, einen großen Fehler zu begehen. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn durcheinandergebracht. Er hatte sich auf Dinge eingelassen, die er bisher immer weit von sich gewiesen hätte, ja die ihm überhaupt nie in den Sinn gekommen wären.
    Da Cremer nicht antwortete, ergriff der Rektor erneut das Wort.
    »Es wird eine internationale Untersuchungskommission eingesetzt. Unabhängige Wissenschaftler werden untersuchen, ob Doktor Hoppe die besagten Dinge …«, der Rektor zögerte kurz, »… die besagten Dinge erfunden hat.«
    Erfunden. Das war eine der schlimmsten Anschuldigungen, die gegen einen Wissenschaftler erhoben werden konnten. Und dass eine Kommission eingesetzt werden sollte, ohne dass er davon gewusst hatte, bedeutete, dass die Zweifel sich auch auf ihn selbst bezogen.
    Das stimmte ihn nachdenklich. War möglicherweise tatsächlich alles nur erfunden? Und hatte er das nicht durchschaut, weil er Victor dessen nicht für fähig hielt? Weil er immer an Victors Talent geglaubt hatte? Sollte Victor diese Gutgläubigkeit ausgenutzt haben?

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