Der Engelmacher
besprochenes Tonband ganz langsam abgespielt.
»Victor!«, hatte der Rektor gerufen. Das Geräusch war erstorben, aber es hatte noch immer niemand aufgemacht.
Der Rektor hatte beim Hausmeister den Reserveschlüssel geholt und gehofft, dass nicht dasselbe in Victor gefahren war, was auch seinen Vater in die Verzweiflung getrieben hatte.
Als er die Tür öffnete, schlug ihm eine betäubende Hitze entgegen. Und mit der Hitze ein Gestank wie von verdorbenem Fleisch. Die Assoziation war dem Anblick der Fliegen noch vorausgegangen, die fast im selben Augenblick aus dem Zimmer herausgeschwirrt kamen. Dutzende Fliegen. Grün und glänzend. Laut summend.
Der Rektor wich erschrocken einen Schritt zurück und stieß mit dem Ärztlichen Direktor zusammen. Beide hielten sie sich reflexartig mit einer Hand die Nase zu, während sie mit der anderen die Fliegen zu verscheuchen suchten, die um ihre Köpfe schwirrten. Beide dachten sie dasselbe. Beide zögerten sie unschlüssig.
Aber die Stimme? Woher war die Stimme gekommen?
Mit ausgestrecktem Arm drückte der Rektor die Tür ganz auf und spähte in das brütend heiße Zimmer hinein.
Der junge Mann saß über ein Buch gebeugt am Schreibtisch, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die Hände auf die Ohren gepresst. Der Schreibtisch befand sich in einer Ecke des Zimmers, rechts vom Fenster, und auf der Fensterbank türmten sich offene Konservendosen. Links vom Fenster stand ein kleiner Gaskocher mit einer Pfanne auf der Anrichte, ebenfalls voller Konservendosen. Im Umkreis der Pfanne und auf den Rändern der Dosen krochen ebenfalls überall Fliegen herum.
Der Rektor schnappte nach Luft und sagte: »Victor? Victor Hoppe?«
Der junge Mann sah nicht auf. Fliegen schwirrten um seinen Kopf und krabbelten über die mit Sommersprossen bedeckten Unterarme.
Der Ärztliche Direktor war nun auch näher gekommen und schaute dem Rektor über die Schulter. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Dann holte er tief Luft und ging direkt auf das Fenster zu, das er weit aufstieß. Die Konservendosen auf der Fensterbank fielen mit Radau zu Boden. Victor sah sich erschrocken um. Doktor Bergmann erkannte ihn kaum wieder. Das bleiche Gesicht war noch bleicher als sonst, die Augen waren rot unterlaufen, und seinem Kinn entsprossen einige rote Haarbüschel, zu wenige, um von einem Bart zu sprechen.
»Wir dachten, dass Ihnen vielleicht etwas fehlt«, sagte der Ärztliche Direktor schnell, weil er damit rechnete, dass Victor sie auf der Stelle hinausschicken würde. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ich bin auf der Suche nach Antworten«, sagte er mit heiserer Stimme, den Blick auf das offene Fenster gerichtet, durch das nun frische Luft hereinkam. Mit dem Handrücken strich er sich dabei über die rechte Augenbraue, auf der sich eine Fliege niedergelassen hatte.
Der Ärztliche Direktor verzog den Mund und tauschte einen Blick des Einvernehmens mit dem Rektor aus.
»Das sind wir alle, Victor, wir sind alle auf der Suche nach Antworten«, sagte er.
»Wie lange sitzen Sie hier schon?«, fragte der Rektor, der in der Tür stehen geblieben war.
Ruckartig wandte Victor ihm den Kopf zu. Sein Blick blieb kurz an seinem Schlips hängen. Dann senkte er den Blick wieder und schüttelte den Kopf.
Erneut ergriff der Rektor das Wort.
»Vielleicht sollten Sie sich kurz frisch machen, Victor. Doktor Bergmann und ich würden gern das eine oder andere mit Ihnen besprechen. Zum Beispiel im Hinblick auf Ihre Zukunft. Wollen wir uns in einer halben Stunde in meinem Büro treffen?«
Der junge Mann nickte, ohne aufzusehen. Er schämt sich, dachte der Rektor.
»Wir verstehen durchaus, dass es nicht leicht für Sie ist«, versuchte er ihn zu beruhigen. »Das ist ganz normal. Das würde jedem so gehen in Ihrer Situation. Wir werden gleich mal gemeinsam überlegen, ob wir etwas für Sie tun können. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Der Rektor winkte Doktor Bergmann, ihm zu folgen. »Dann also bis gleich, Victor«, verabschiedete sich dieser.
»Er ist verzweifelt«, sagte der Rektor, als sie außer Hörweite waren. »Er weiß nicht, wie er mit dem Tod seines Vaters umgehen soll.«
»Allerdings. Haben Sie gesehen, was er da gelesen hat?«
Der Rektor schüttelte den Kopf. »Nein. Etwas Besonderes?«
»Die Bibel.«
»Die Bibel«, wiederholte der Rektor, »dann ist er wirklich verzweifelt.«
Doktor Bergmann hatte Victor erklärt, welche Wege ihm für eine Promotion offenstünden oder, wie der Ärztliche
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