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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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gültig angesehen werden konnten. Im Gegenteil hatte die Kommission festgestellt, dass die Aufzeichnungen von Victor Hoppe »etliche durchgestrichene oder unlesbare Passagen, undeutliche Mitteilungen und widersprüchliche Fakten« enthielten. Man war insofern zu dem Schluss gekommen, dass »nicht einmal die elementarsten wissenschaftlichen Grundsätze« beachtet worden seien, folglich müsse »die Qualität der Forschungen Doktor Victor Hoppes in ihrer Gesamtheit ernsthaft angezweifelt werden«.
     
    ***
     
    Ich bin stolz auf dich, Victor. Ich bin wirklich stolz auf dich.
    Das hatte er sagen wollen, am Telefon, als Victor die Neuigkeit erzählt hatte. Er hatte sich seit langem vorgenommen, das zu sagen. Aber der Ton, in dem sein Sohn ihm mitgeteilt hatte, dass er sein Medizinexamen bestanden hatte, hatte ihn schließlich davon zurückgehalten. Es war ein gleichgültiger Tonfall gewesen. Genau wie immer. Und er hatte gedacht: Jetzt sei doch selbst auch mal stolz, Victor! Schrei es verdammt noch mal heraus, dass du stolz bist!
    Auch das hatte er nicht ausgesprochen. Er hatte lediglich gesagt: »Schön, Victor, prima.« In einem Tonfall, als wäre er gefragt worden, wie ihm das Essen schmecke.
    Und nachdem er aufgelegt hatte, hatte er sich selbst verflucht. Ebenfalls genau wie immer.
     
    Er hatte angefangen mit »Mein lieber Victor«, aber das hatte er sofort wieder durchgestrichen. Danach hatte er noch »Lieber Victor« und »Hallo, Victor« probiert, um schließlich bei »Victor …« zu bleiben.
     
    Der Rektor der Universität Aachen rief Victor Hoppe am frühen Nachmittag des 27. Juni 1966 zu sich ins Büro. Mit einem raschen Augenaufschlag musterte er den jungen Mann und fragte sich, ob sie einander schon einmal begegnet waren. Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er sich zweifellos erinnert.
    Von Doktor Bergmann, dem Ärztlichen Direktor der Fakultät für Biomedizin, hatte der Rektor vernommen, dass Victor Hoppe tags zuvor summa cum laude sein Staatsexamen abgelegt hatte. Und dass er immer hart gearbeitet habe, ohne sich in den Vordergrund zu spielen, dass er Durchhaltevermögen mit Talent vereine. Kein Mann vieler Worte, der aber desto mehr Resultate erziele. Eine vielversprechende Persönlichkeit. Doktor Bergmann hoffte, dass Victor Hoppe an einem der Institute seiner Fakultät promovieren würde.
    »Und emotional? Wird die Neuigkeit ihn …«, hatte der Rektor am Ende des Gesprächs gefragt.
    Darauf hatte der Ärztliche Direktor keine Antwort geben können.
    Der junge Mann saß jetzt ein wenig steif da. Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Arme verschränkt, die Beine übereinandergeschlagen. Eine geschlossene Körperhaltung war ein Zeichen für Verlegenheit oder Angst, wusste der Rektor, aber auch für Zurückhaltung.
    »Victor«, setzte der Rektor an, nachdem er hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. Der junge Mann veränderte seine Sitzposition leicht, sah aber nicht auf.
    »Victor, erlauben Sie mir, dass ich Ihnen als Erstes zu Ihrem Examen gratuliere. Ihre Professoren waren ja des Lobes voll.«
    »Vielen Dank«, lautete die höfliche Antwort.
    Die nasale Stimme brachte den Rektor kurz durcheinander. Es kostete ihn Mühe, sich wieder an den Satz zu erinnern, den er vorher eingeübt hatte.
    Gratulieren. Kondolieren. Diese beiden Worte bildeten den Kern seiner Mitteilung.
    »Aber zu meinem Bedauern habe ich auch zu kondolieren«, sagte der Rektor.
    Victor Hoppe sah noch immer nicht auf.
    »Ihr Vater ist gestorben«, fuhr der Rektor fort. Er hatte versucht, möglichst teilnahmsvoll zu klingen.
    Der junge Mann schien nicht einmal zu erschrecken. Er nickte lediglich ein paar Mal. Vielleicht hatte er es schon kommen sehen. Oder sein Vater hatte ihm gesagt, was er vorhatte, wenn er nicht sogar früher schon einen Versuch unternommen hatte. Der Rektor fragte sich, ob er dann überhaupt noch mehr dazu sagen musste.
    »Es überrascht Sie nicht?«, fragte er zögerlich.
    Victor zuckte mit den Schultern.
    »Sie haben es also kommen sehen«, folgerte der Rektor.
    Nun schüttelte Victor den Kopf. »Was hätte ich kommen sehen sollen?«
    Der Rektor faltete unwillkürlich die Hände. Ein Seufzer entfuhr ihm. »Es war seine eigene Entscheidung«, sagte er langsam. »Zu sterben. Er hat seinen Tod selbst gewählt.«
    Seinem Gegenüber war keine Gefühlsregung anzumerken. »Wie denn?«, fragte Victor dann. »Wissen Sie auch, wie er es getan hat?«
    Der Rektor wusste es, aber sollte er es jetzt wirklich

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