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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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sagen? War das seine Aufgabe? Wenn der junge Mann es wissen wollte, dann hatte er natürlich ein Recht darauf. Aber wie sollte er es sagen?
    »An einem Baum«, sagte er in der Hoffnung, dass das deutlich genug wäre.
    Der junge Mann nickte und sagte dann etwas, was der Rektor ganz und gar nicht begriff.
    »Wie Judas also.«
    »Wie bitte?«
    Victor schüttelte den Kopf und verlegte sich wieder aufs Schweigen.
    »Gibt es irgendjemanden, der Sie abholen kommen kann?«, fragte der Rektor besorgt. »Der Sie zum Haus Ihres Vaters bringen kann? Irgendjemanden, den ich für Sie anrufen kann?«
    »Nein, Herr Rektor, vielen Dank«, antwortete Victor. Er legte die Hände in den Schoß und fragte nach einer kurzen Pause: »Muss ich denn dorthin? Ist das wirklich nötig?«
    »Ich denke schon«, antwortete der Rektor und zog die Brauen zusammen. »Die Polizei würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Nichts Besonderes. Ein Routinevorgehen bei …«
    Er bekam das Wort nicht über die Lippen und fing deshalb schnell von etwas anderem an.
    »Wissen Sie schon, was Sie jetzt tun werden? Ich meine, demnächst? Nun, da Sie Ihr Examen in der Tasche haben?«
    Victor zuckte mit den Schultern. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
    »Ihre Professoren sähen es gern, wenn Sie hier an der Universität promovieren würden. Aus Ihrem Talent kann noch viel werden. Es wäre schade drum, nichts daraus zu machen.«
    Kurz meinte der Rektor, eine Reaktion bemerkt zu haben, aber eine so minimale, dass er sie sich möglicherweise auch nur eingebildet hatte. Es würde sich schon noch eine Gelegenheit ergeben, darauf zurückzukommen.
    »Soll jemand von der Universität Sie zu Ihrem Vater bringen?«
    Victor schüttelte den Kopf und stand auf. »Vielen Dank, es wird schon gehen.«
    »Hoffentlich. Aber vergessen Sie nicht, dass Sie hier jederzeit willkommen sind, wenn etwas ist.«
    »Nein, das werde ich nicht vergessen, Herr Rektor. Ich danke Ihnen.«
    »Gerne, Victor. Und nochmals herzliches Beileid.«
    Ein Sozialpädagoge der Polizei übergab Victor den Brief. Der Umschlag war bereits geöffnet. Um ein Verbrechen auszuschließen, erklärte ihm der Beamte und entschuldigte sich.
    Nachdem der Mann gegangen war, las Victor den Brief. Irgendwelche Antworten hoffte er darin nicht zu finden, denn es stellten sich ihm keinerlei Fragen. Nichtsdestotrotz versetzte das Schreiben ihm einen Schock.
     
    Victor, in jedem Menschen liegen Kräfte verborgen, die den Willen und den Verstand übersteigen. Ein Mensch kann noch so viel Gutes tun, schließlich wird er doch büßen müssen für das Böse, das er getan hat. Es reicht deshalb nicht aus, Gutes zu tun, sondern man muss auch das Böse bekämpfen. Und das habe ich nicht zur Genüge getan. Leider gibt es keinen Weg zurück.
    Dich trifft keine Schuld. Merk dir das. Du hast es weiter gebracht, als jemals irgendwer von dir erwartet hätte. Darauf kannst du stolz sein.
    Deine Mutter wäre auch stolz auf dich. Sie war ein frommer und guter Christenmensch. Auch das vergiss bitte nicht. Ich weiß, dass sie dir gern viel Liebe geschenkt hätte, aber auch in ihr lag etwas verborgen, das stärker war als sie selbst. Ich hoffe, dass du ihr vergeben kannst.
    Mir brauchst du nichts zu vergeben. Ich verdiene es nicht. Ich hätte die Verantwortung übernehmen müssen, aber das habe ich nie getan. So etwas ist unverzeihlich. Wer Kinder in die Welt setzt, muss auch für sie sorgen. Vergiss das nie.
    Was dich selbst angeht, so ist in gewissem Maße für dich gesorgt. Das Haus, der Hausrat, das Geld, und natürlich die Praxis, all dies fällt nun dir zu. Schon immer wolltest du Arzt werden, jetzt steht dir nichts und niemand mehr im Wege.
    Ich wünsche dir viel Erfolg und Glück. Dein Vater.
     
    Die Worte seines Vaters rüttelten Victor auf. Nicht seine Tat und auch nicht sein Tod, aber seine Worte. Die erschütterten sein Weltbild in seinen Grundfesten. Er war immer davon ausgegangen, dass es genügte, Gutes zu tun, und dass dem Bösen lediglich widerstanden werden müsste. Das Böse versuchte sich schließlich stets allen, die Gutes taten, in den Weg zu stellen. Aber wer Gutes tat, musste also auch das Böse aktiv bekämpfen, entnahm er dem Brief. Das war eine ganz neue Einsicht. Es brachte ihn zum Nachdenken, und vor allem weckte es seine Zweifel. Zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er. An dem, was er wusste. An dem, was er getan hatte. An dem, was er noch tun würde. Und der Besuch Pastor Kaisergrubers am selben

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