Der Engelmacher
Nachmittag machte alles noch einmal doppelt so schlimm.
Pastor Kaisergruber hatte Victor Hoppe mit einem mulmigen Gefühl im Magen aufgesucht, um über das Begräbnis zu sprechen. Er wollte dem Sohn soweit wie möglich aus dem Weg gehen und war deshalb ohne Umschweife zur Sache gekommen.
»Ich möchte es gerne schlicht halten, verstehst du?«
»Nein, das verstehe ich nicht«, antwortete Victor.
»Es geht eigentlich nicht. Eigentlich geht es nicht.«
»Was geht nicht?«
»Dass dein Vater christlich bestattet wird.«
»Das möchte ich auch gar nicht.«
»Es war aber sein Wunsch.«
»Sein Wunsch?«
»Er hat entsprechende Anweisungen hinterlassen. Für den Begräbnisunternehmer. Hast du die nicht zu sehen bekommen?«
Victor schüttelte den Kopf.
»Er wollte neben seiner Frau, deiner Mutter, beerdigt werden. Er wollte es um ihretwillen. Eigentlich geht das nicht, aber wir brauchen es ja nicht so eng zu sehen. Nur schlicht sollten wir es halten. Kein Chor, keine Reden. Schlicht.«
»Warum geht es nicht?«
»Wegen … du weißt schon. Alle wissen es. Alle haben ihn gesehen.«
»Weswegen denn?«, fragte Victor zum Ärgernis des Priesters beharrlich nach.
»Gott hat es verboten.«
»Was hat Gott verboten?«
Es ist wie bei einem Kind, dachte der Priester, jede Antwort ruft nur neue Fragen hervor. Um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden, beschloss er, ein für allemal Klartext zu reden.
»Den Selbstmord«, sagte er unumwunden.
»Wo steht das?«
»In der Bibel.«
»Wo in der Bibel?«
Der Priester fühlte sich langsam unwohl. Nur selten sah er sich mit Widerspruch konfrontiert. Und am schlimmsten war, dass er nichts entgegnen konnte, weil er nicht wusste, wo in der Bibel geschrieben stand, dass Selbstmord verboten war. Trotzdem nannte er irgendeinen Vers. Vom Ende des Matthäus-Evangeliums, wo vom Selbstmord des Judas die Rede ist.
»Matthäus 27, Vers 18.«
»Denn er wusste wohl, dass sie ihn aus Neid überantwortet hatten«, zitierte Victor zur Überraschung des Priesters und fügte sogleich hinzu: »Es steht nicht in der Bibel. Es steht nichts darüber in der Bibel.«
Der Priester war kurz irritiert, fasste sich aber schnell wieder.
»Es ist von der Kirche aus verboten!«, sagte er in bestimmtem Tonfall. »Das Leben ist ein Geschenk Gottes. Das dürfen wir nicht eigenhändig zerstören. Es steht uns nicht zu, über Leben und Tod zu entscheiden. Das ist Ihm vorbehalten! Gott gibt und Gott nimmt, niemand anders.«
»Wer gibt ihm das Recht dazu?«, entgegnete Victor mit leicht erhobener Stimme. »Warum sollten wir uns seinem Willen fügen müssen? Er ist das Böse, und das Böse muss bekämpft werden.«
Es steckt wahrlich der Teufel in ihm, dachte Pastor Kaisergruber, ich habe es schon immer gewusst. Das Böse ist noch immer ganz nah. Es muss stets aufs Neue besiegt werden.
»Du solltest dich schämen, solche Reden im Munde zu führen! Hast du denn dort gar nichts gelernt? Dein Vater hat dich viel zu früh da weggeholt. Schwester Milgitha hatte Recht: Das Böse ist dir nie ganz ausgetrieben worden.«
Energisch stand er auf und ging. Nach zwei Schritten hielt er jedoch inne und drehte sich um. Victor saß da, als hätte die Hand Gottes selbst ihn getroffen.
»Samstag um zehn Uhr wird dein Vater beerdigt. Eine schlichte Messe, und danach wird er im Grab deiner Mutter beigesetzt. So wie es sein Wille war.«
Victor war bei dem Begräbnis seines Vaters nicht zugegen. Tags zuvor war er in sein Zimmer auf dem Universitätscampus zurückgekehrt. Er hatte jeden Halt und jede Orientierung verloren. Er war aus der Bahn geworfen. In seinem Kopf schwirrte es von Stimmen und Worten, eine Kakophonie ungekannten Ausmaßes.
Dein Vater hat dich viel zu früh da weggeholt.
Ein Mensch kann noch so viel Gutes tun, schließlich wird er doch büßen müssen für das Böse, das er getan hat.
Man muss auch das Böse bekämpfen.
Das Böse ist dir nie ganz ausgetrieben worden.
Gott gibt und Gott nimmt, niemand anders.
Er war so aus der Bahn geworfen, dass er sein Zimmer kaum mehr zu verlassen wagte.
Der Rektor und der Ärztliche Direktor der Fakultät für Biomedizin hatten ihn aufgesucht. Es war Mitte August. Die Sonne schlug in diesen Hundstagen ein letztes Mal zu, mit Temperaturen über 30 Grad. Alles flimmerte in der Hitze.
Der Rektor hatte angeklopft, aber niemand hatte geöffnet, obgleich sowohl er als auch Doktor Bergmann eine Stimme gehört hatten. Ein monotones Geleier, als würde ein
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