Der Engelmacher
wiederzuerkennen wäre, aber tatsächlich trug er inzwischen eine Brille, und auch sein Haar war länger als damals an der Universität.
»Da haben Sie allerdings Recht«, entgegnete er. Mechanisch rückte er seine Brille zurecht. »Aber erzählen Sie, wie geht es Ihnen?«
Victor zuckte achtlos mit den Schultern. Es war nicht zu erkennen, ob er keine Lust hatte zu antworten oder ob diese Reaktion schon als Antwort gehen sollte. Er fragte auch nicht zurück, also ergriff Rex erneut das Wort.
»Und was machen Sie derzeit? Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen …«
Bewusst hatte er die Frage neutral gehalten, obwohl er sich noch gut daran erinnerte, wie ausweichend sein Ex-Kollege antworten konnte.
»Hausarzt«, sagte Victor.
»Hausarzt«, wiederholte Rex leicht erstaunt. Und um seine Überraschung zu kaschieren, hakte er nach: »Und wo?«
»In Wolfheim.«
»Wolfheim?«
Victor nickte. Mehr nicht. Keine Erklärung, wo dieser Ort sich befand. Nicht, dass er geheimnisvoll oder zurückhaltend gewirkt hätte. Nein, vielmehr strahlte er Gleichgültigkeit aus, so als hätte er mit seinem Gegenüber keinerlei gemeinsame Vergangenheit. Erst als Rex erzählte, dass auch er mittlerweile die Universität Aachen verlassen habe, schien Victor überrascht zu sein. Ganz kurz blickte er auf, als wolle er etwas sagen. Aber dann hielt er doch den Mund, bis Rex eine Bemerkung fallen ließ, von der er wusste, dass sie den anderen nicht kalt lassen würde.
»Sie hatten dort den Glauben an mich verloren.«
Damit schien er allerdings mehr losgetreten zu haben, als er vermutet hatte, denn ohne die Stimme zu dämpfen, entgegnete Victor: »So wie Sie den Glauben an mich verloren hatten.«
Rex blickte leicht beschämt um sich. Nicht darauf eingehen, dachte er, das führt sonst nur zu überflüssigen Diskussionen.
»Wie ist es ausgegangen?«, fragte er.
Er rechnete mit einer ausweichenden Antwort und hätte sich damit zufriedengegeben. Es hätte ihn beruhigt. Und ausweichend war die Antwort tatsächlich, aber sie warf nur noch mehr Fragen auf.
»Noch nicht. Es ist noch nicht ausgegangen.«
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Wie meinen Sie das?«
»Ich fange noch einmal an.«
Die Antwort beruhigte ihn. Dann war das vorige Experiment misslungen. Und also offensichtlich nicht erfunden gewesen. Sondern schlichtweg und logischerweise misslungen. Gott sei Dank.
Trotzdem fragte er noch einmal explizit nach. Er wollte es aus dem Mund des Doktors selbst vernehmen. Abwartend starrte Victor zu Boden, und da stellte Rex seine Frage.
Ursprünglich hatten sie sich gleich für den Tag nach der Messe verabredet, aber an jenem Morgen hatte Victor telefonisch abgesagt, weil etwas vorgefallen war. Er hatte durcheinander geklungen, und soweit Rex es begriffen hatte, war irgendetwas mit der Haushälterin passiert. Ein Unfall oder dergleichen. Ob er ein paar Tage später kommen könne? Damit war er einverstanden gewesen, obwohl seine Geduld dadurch noch länger auf die Probe gestellt wurde.
Was wusste er zu diesem Zeitpunkt? Dass vier Jahre zuvor drei Jungen geboren worden waren und dass die vierte Frucht nicht ausgewachsen und als Totgeburt zur Welt gekommen war. Auch wusste er, dass alle drei Kinder tatsächlich Klone des Doktors waren und einander aufs Haar glichen. Und dass alle drei noch lebten.
Das alles hatte er an jenem Vormittag auf der Messe von Victor vernommen.
»Kann ich sie sehen? Darf ich sie sehen?«, hatte er aus einem Impuls heraus gefragt.
Er durfte.
Trotzdem hatte er noch eine weitere Frage gestellt. Die Antwort darauf hatte ihn ebenfalls überrascht. Nein, schockiert. Er hatte nach den Namen der Kinder gefragt.
Rex Cremer parkte sein Auto vor dem freistehenden Haus. Am Zauntor sah er ein Schild mit Victors Namen und den Sprechstunden. Als er ausstieg, hörte er die Kirchturmuhr schlagen, zweimal. Er war auf die Minute pünktlich. Gegenüber war eine Frau damit beschäftigt, den Bürgersteig zu fegen. Er nickte ihr freundlich zu, aber sie reagierte kaum. Victor kam aus dem Haus, grüßte ihn mit einem Kopfnicken und öffnete das Tor.
»Folgen Sie mir nur«, sagte er und ging bereits wieder den Pfad zurück.
Rex kam sich vor wie der soundsovielte Sprechstundenpatient, und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sich herausstellte, dass er tatsächlich ins Sprechzimmer gebracht wurde. Victor nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und bot ihm den anderen Stuhl an. Sofort fiel Rex das gerahmte Foto auf. Es
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