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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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in den Händen hielt.
    »Weniger als die Hälfte«, sagte er mechanisch.
    »Weniger als die Hälfte. Das ist … hat das Folgen für die Kinder?«
    »Sie altern rasch.«
    Rex sah seine Vermutung bestätigt, obwohl er nicht wusste, was er sich darunter vorzustellen hatte.
    »Und fällt das auf?«, fragte er. »Ich meine, kann man es an irgendetwas sehen?«
    Er hoffte, dass der Doktor ihm nun die Kinder selbst zeigen würde, aber Victor nickte lediglich und starrte auf das Foto.
    »Am Anfang schien noch alles in Ordnung zu sein«, sagte er. »Aber dann …« Er verfiel wieder in Schweigen.
    »Was dann?«
    »Sie wurden plötzlich kahl. Damit fing es an.«
    Rex betrachtete das Foto. Die roten Haare der drei Jungen waren auch hier schon dünn und schütter. Es fiel nicht schwer, sie sich ganz wegzudenken.
    »Und dagegen war nichts zu machen?«
    »Ich habe es probiert.«
    »Und jetzt?«
    »Die Telomere des vierten und des neunten Chromosoms sind aufgebraucht.«
    Rex erschrak. Seine Ahnung wurde von Doktor Hoppe sogleich bestätigt: »Seither haben die Zellteilungen aufgehört, und die übrig gebliebenen Zellen sterben langsam ab.«
    »Wodurch der Alterungsprozess nicht mehr aufzuhalten ist.«
    Victor nickte.
    »Aber es ist nichts verloren«, sagte er dann. Er streckte den Rücken durch und stemmte die Hände auf die Armlehnen seines Stuhls, als wolle er sogleich aufstehen.
    »Nichts verloren?«, fragte Rex verwundert.
    »Es war eine Mutation. Sonst nichts. Nun, da ich das weiß, kann ich bei der Selektion der Embryonen darauf achten.«
    Rex wusste nicht, wo er hinsehen sollte.
    »Das ist nun einmal unsere Aufgabe«, fuhr Victor unbeirrt fort. »Wir müssen die Fehler ausbessern, die Er in seiner Eile begangen hat.«
    Rex war erschüttert.
    »Eine Mutation ist doch bloß ein Fehler in den Genen«, fuhr Victor eilig fort, »nicht mehr und nicht weniger. Genauso wie dies ein Fehler in den Genen ist«, und dabei hob er die Hand an die Oberlippe und fuhr mit dem Zeigefinger über die Narbe. Es kostete Rex Mühe, nicht den Blick abzuwenden.
    »Und indem wir diese angeborenen Fehler ausbessern, verbessern wir auch uns selbst«, sagte Victor nachdrücklich. »Nur so können wir dafür sorgen, dass Gott eines Tages das Nachsehen hat.«
    Der Schock, den Rex das versetzte, übertraf sogar die Bestürzung, die er empfunden hatte, als Victor ihm seinerzeit die Namen der drei Kinder mitgeteilt hatte. Unwillkürlich musste er daran zurückdenken, wie er Victor Hoppe die Gratulationskarte geschickt hatte, die ihre Bekanntschaft eingeleitet hatte.
    Durch Sie hat Gott jetzt das Nachsehen.
    Und während er an diesen Augenblick zurückdachte, wurde ihm bewusst, dass er selbst, Rex Cremer, mit diesem einen unschuldigen Satz alles Weitere in Gang gesetzt hatte.
    »Wollen wir dann mal?« Victor hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und sich halb aufgerichtet. »Sie wollten doch die Kinder sehen. Kommen Sie. Sie sind oben.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Tür.
    Rex blieb noch kurz sitzen, weniger im Zweifel, ob er Victor Hoppe folgen sollte, als vielmehr verdutzt. Als er schließlich aufstand, war ihm schwindlig. Er zwinkerte ein paar Mal mit den Augen und holte tief Luft.
    »Doktor Cremer?«, hörte er aus dem Gang.
    »Ich komme«, antwortete er. Im Stillen wiederholte er sich den Satz noch ein paar Mal. Während er hinter Victor die Treppe hinaufging, probierte er, sich auf das zu konzentrieren, was er gleich zu sehen bekommen würde, aber die Worte, die gerade gefallen waren, gingen ihm nicht aus dem Kopf.
    Wir müssen die Fehler ausbessern, die Er in seiner Eile begangen hat.
    Es kann nicht wahr sein, dachte er. Er will mich provozieren. Victor Hoppe fordert mich heraus. Er hält mich zum Narren. Gleich wird er sagen, dass das alles nur erfunden ist, und dann will er mein Gesicht sehen. Darum hat er mich herkommen lassen. Um mich hinterher zu verspotten. Weil er selbst auch verspottet wurde.
    Noch als Victor bereits die Tür öffnete, hoffte Rex, dass alles nur erfunden wäre. Und ebenso, als Victor in den Raum ging und er ihn drinnen sagen hörte: »Michael, Gabriel, Raphael, hier ist …«
    Die Stimme geriet ins Stocken. Es war so unüberhörbar, dass Rex die letzten drei Stufen auf einmal nahm. Noch zwei Schritte, und er stand im Türrahmen und sah ins Zimmer.
    Dass es ein Klassenzimmer war, fiel ihm erst später auf, auch wenn sein Blick als Erstes auf die Schultafel fiel, auf welche Victor gerade mit großen, schnellen

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