Der Engelmacher
Schritten zuging, ja zustürzte. Er griff nach einem Schwamm und wischte die Tafel ab. Nur einen flüchtigen Blick konnte Rex noch auf die Zeichnung werfen, die fast die ganze Tafel ausfüllte. Es war eine Figur, ein Mann oder eine Frau. Das Gesicht hatte der Doktor als Erstes getilgt. Übrig blieb nur das Haar, das mit einer Nadel zu einem Dutt hochgesteckt war. Es war also eine Frau. Der Dutt war weiß, und um ihn herum hing etwas strahlend Gelbes. Das verschwand als Nächstes, der Dutt und dieser Strahlenkranz, der vermutlich einen Heiligenschein darstellen sollte, denn die Frau hatte auch Flügel. Weiße Flügel, die als große Ovale seitlich des Oberkörpers prunkten.
Es war eine Kinderzeichnung, mit einfachen Linien gemalt, aber gerade dadurch war alles auf Anhieb zu erkennen. Aber auch auf Anhieb zu tilgen.
Danach wandte der Doktor sich der anderen Hälfte der Tafel zu, die mit Schrift bedeckt war. Offenbar ebenfalls von Kinderhand, und auch die Schrift wurde nun unwiderruflich getilgt. Aber der eine Satz, den Rex gerade noch lesen konnte, genügte ihm. Er wusste, was dort gestanden hatte.
… der du bist im Himmel …
Victor legte den Schwamm zurück und drehte sich um. Er rieb die Handflächen aneinander, Kreidestaub wirbelte empor. Dann strich er sich übers Gesicht. In seinem roten Bart blieben weiße Streifen zurück.
Einen Augenblick lang wusste Rex nicht mehr, weshalb er gekommen war. Dann holte Victors Blick ihn in die Gegenwart zurück.
Es waren drei. Es waren tatsächlich drei, aber eigentlich hätten es genauso gut zwei oder vier sein können. Das hätte keinen großen Unterschied gemacht, denn er sah es auf Anhieb. Er sah, dass nichts davon erfunden war. Dass Victor nichts erfunden hatte.
2
Als im Herbst 1988 der Walnussbaum im Garten des Doktorhauses gefällt worden war, hatten nur wenige Dorfbewohner tatsächlich geglaubt, durch diese Tat würde großes Unheil über Wolfheim hereinbrechen, wie Josef Zimmermann behauptet hatte. Kein Jahr später mussten jedoch selbst die größten Skeptiker zugeben, dass der alte Mann Recht gehabt hatte. Jacques Meekers hatte auch bereits eine Theorie entwickelt, derzufolge sich das Unheil entsprechend dem Verlauf der unterirdischen Baumwurzeln über das Dorf ausbreitete. Den Zweiflern präsentierte er im »Terminus« eine Generalstabskarte von Wolfheim und Umgebung, auf der die verschiedenen Schicksalsorte mit Kreuzchen markiert waren. Jedem Kreuzchen war eine Nummer zugeordnet, von der aus eine kapriziöse Linie zu der Stelle führte, wo der Walnussbaum gestanden hatte. Am Rand der Karte hatte Meekers zu jeder Nummer die jeweilige Art des Unglücks notiert, ebenso wie das Datum und den Namen desjenigen, den das Schicksal getroffen hatte. Indem er auch alltägliche Unglücksfälle ohne nennenswerten Schaden in seine Chronik aufnahm, untermauerte er seine Behauptungen zusätzlich. Kritische Bemerkungen derart, dass die Wurzeln des Baums doch nie bis nach La Chapelle reichen könnten, suchte er damit zu widerlegen, dass es von dort bis zum ehemaligen Standort des Baums noch nicht einmal fünfhundert Meter Luftlinie seien.
Mit dem Unglück, das Charlotte Maenhout am 29. Oktober 1988 widerfahren war, hatte die Kette der Schicksalsschläge begonnen. Darüber waren sich alle einig . Ihr Begräbnis hatte viele Menschen in die Kirche gelockt, die meisten vermutlich in der Hoffnung, dass Doktor Hoppe und seine drei Kinder auch kommen würden. Er hatte sich jedoch nicht blicken lassen, weder bei der Messe noch bei der Beisetzung. Jacob Weinstein tat hinterher kund, der Doktor habe kurz vor dem Begräbnis angerufen, um sich zu entschuldigen: Die Kinder seien in sehr schlechter Verfassung. Aus Gram natürlich, hatte er erst gedacht, doch ein paar Tage später, als Einzelheiten über das Testament Charlotte Maenhouts bekannt wurden, hatte er, wie viele andere Dorfbewohner auch, seine Meinung revidieren müssen.
Pastor Kaisergruber hatte die Neuigkeit persönlich von Notar Legrand aus Gemmenich vernommen. Der hatte ihm gesagt, dass Charlotte Maenhout all ihr Geld – den Betrag hatte er nicht genannt, aber es war eine ordentliche Summe – einer Stiftung für krebskranke Kinder hinterlassen hatte. Die Mitteilung hätte nicht unbedingt zu beunruhigenden Schlussfolgerungen führen müssen, aber Notar Legrand hatte hinzugefügt, dass Frau Maenhout erst vor zwei Monaten ihr Testament hatte ändern lassen. Ursprünglich hatte sie die Kinder des Doktors zu ihren Erben
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