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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Stimmen. In dem Gekreisch fing sie einzelne Namen auf: Michel, Reinhart. Sie spürte ihr Herz schneller schlagen und holte tief Luft, die sie dann langsam durch die Nase entweichen ließ. Ebenso langsam setzte sie sich selbst in Bewegung. Die Räder ihres Rollkoffers, den sie hinter sich herzog, machten ein ratterndes Geräusch. Sie ging immer weiter, bis sie den Kindern auf der anderen Straßenseite genau gegenüberstand.
    Und plötzlich erkannte sie sie, obwohl sie sie noch nie gesehen hatte. Sie ließ ihren Koffer los und schlug die Hände vor den Mund. Die Jungen glichen einander aufs Haar. Die Statur. Die Körperhaltung. Die Form des Gesichts. Und sie trugen alle denselben blauen Anorak und dieselbe Wollmütze, was ihre Ähnlichkeit noch verstärkte. Aber es waren nur zwei, nicht drei. Ihr wurde schwindlig. Und genau in diesem Moment, als sich alles um sie herum zu drehen begann, sah einer der Jungen sie an. Alles kam so plötzlich zum Stillstand, als hätte irgendwo jemand einen Hebel umgelegt.
    Der Junge hatte ihre Augen. Das sah sie auf Anhieb. Ihre eigenen großen Augen, mit genauso viel Weiß um die dunkle Iris wie bei ihr selbst.
    Wie in Trance ließ sie ihren Koffer los und lief über die Straße.
    »Es ist meine Schuld! Es ist alles meine Schuld!«
    Etwas in der Art hatte sie wohl gerufen. Dann hatte sie einen der beiden Jungen an den Händen gefasst und diese ganz fest gehalten. Sie war in die Hocke gegangen, sodass sich ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit seinem befand, und hatte ihm direkt in die Augen gesehen.
    »Ich hätte euch nicht allein lassen dürfen!« So etwas hatte sie gesagt. Oder: »Ich hätte euch nicht zurücklassen dürfen!«
    Und mit Sicherheit hatte sie gesagt: »Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid!«
    Aber sie wusste nicht mehr, wann sie das genau gesagt hatte. Als der Junge versucht hatte, sich loszureißen, und zu schreien angefangen hatte. Oder als sie sich bei den Frauen entschuldigt hatte.
    »Lassen Sie ihn los!«, hatte die Frau gerufen, die als Erste angerannt gekommen war. »Lassen Sie ihn los!«
    »Ich bin ihre Mutter!«
    »Sie sind verrückt!«
    Eine zweite Frau war dazugekommen und hatte gerufen: »Lassen Sie meinen Sohn los! Lassen Sie in Gottes Namen meinen Sohn los!«
    Und dann hatte die Frau ihr einen Stoß versetzt, wodurch sie das Gleichgewicht verloren und rückwärts in die Pfütze gefallen war. Dabei hatte sie das Kind loslassen müssen.
    »Michel, Marcel, rein mit euch. Und nehmt Olaf und Reinhart mit!«
    Sie hatte noch die Arme nach ihnen ausgestreckt, aber die Kinder waren weggelaufen. Dann war sie in Tränen ausgebrochen, noch immer auf dem Boden sitzend, in der Wasserlache. Und ihr war klar geworden, dass sie sich getäuscht hatte.
    »Es tut mir Leid! Es tut mir Leid!«
    Danach hatte sie noch alles Mögliche gesagt. Sie hatte es erklärt. Und schließlich hatte sie sich aufgerappelt.
    »Ich muss zum Doktor.«
    Erst nach dreimaligem Klingeln wurde die Tür geöffnet, und Doktor Hoppe trat heraus. Sein Äußeres, das sie all die Zeit über zu verdrängen versucht hatte, rief sofort einen derartigen Widerwillen bei ihr hervor, dass sie unwillkürlich an all die Male zurückdenken musste, die er mit seinen Fingern an und in ihr herumgemacht hatte.
    Sie hatte sich vorgenommen, nicht sofort von den Kindern anzufangen. Dieses Mal würde sie vorsichtiger sein, sich nicht so gehen lassen wie damals.
    Der Doktor musterte sie mit einem raschen Blick. Sein Gesicht verriet keine Gefühlsregung. Vielleicht erkannte er sie auch nicht.
    »Herr Doktor«, setzte sie an. An ihrer Stimme merkte sie selbst erst, wie nervös sie war. Sie hatte entschlossen auftreten wollen, aber sie klang wie ein kleines Kind, das um etwas bettelte.
    »Herr Doktor«, sagte sie noch einmal, nun etwas forscher, »ich möchte Sie gern sprechen, ich muss Sie sprechen.«
    »Ich halte keine Sprechstunden mehr ab. Vorläufig nicht mehr.«
    Seine Stimme klang ihr in den Ohren wie ein Fingernagel, der über eine Schultafel kratzt. Sie wandte das Gesicht ab und verzog den Mund. Dann schüttelte sie den Kopf und sah ihn erneut an.
    »Es ist dringend«, sagte sie. »Es kann nicht warten.« Sie bebte und gab sich keine Mühe, es zu verbergen.
    »Kommen Sie kurz herein«, sagte er.
    Während sie ihm den Pfad entlang folgte, nahm ihre Wut zu. Monatelang hatte sie bei ihm zu Hause in einem Zimmer gelegen, und jetzt erkannte er sie nicht einmal. Und das, obwohl sie sich in all den Jahren kaum verändert hatte. Ihr

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