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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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makelloses Gesicht, ihr kurzes Haar, sogar ihr Gewicht war noch dasselbe wie zu Zeiten ihrer Schwangerschaft – die neunzehn Kilo, die sie damals zugenommen hatte, war sie nie wieder losgeworden.
    Er tut nur so, dachte sie plötzlich. Das kann doch gar nicht sein. Er wollte so tun, als wäre er ihr nie begegnet. Er wollte alles als ihre Wahnvorstellung abtun und die Kinder für sich behalten. Darum ging es ihm. Aber das würde ihm nicht gelingen. Diesmal nicht.
    »Warum tun Sie so, als würden Sie mich nicht kennen?«, fragte sie, kaum dass er die Tür hinter sich zugezogen hatte.
    Er erschrak. Das sah sie. Aber sie sagte nichts.
    »Sie wissen, warum ich gekommen bin«, fuhr sie fort. »Darum tun Sie jetzt so.«
    Sie sah, dass er sich in die Enge getrieben fühlte. Jetzt musste sie dranbleiben.
    »Ich bin ihre Mutter, und deshalb habe ich das Recht, die Kinder zu sehen.«
    »Sie sind nicht ihre Mutter«, entgegnete er.
    Ihr Gefühl hatte sie also nicht getäuscht. Er wollte sie glauben machen, sie bilde sich das alles nur ein.
    »Wie können Sie es wagen?«, brauste sie auf. »Wie können Sie es wagen, derartig zu lügen, nach allem, was Sie mir angetan haben.«
    »Ich lüge nicht«, sagte er mit einer Gelassenheit, die sie noch mehr aufregte. »Die Kinder haben keine Mutter.«
    »Und ob Sie lügen! Sie lügen in einer Tour! Sie wollen so tun, als gäbe es mich nicht! Weil Sie die Kinder für sich behalten wollen!«
    Absichtlich hatte sie die Stimme erhoben, in der Hoffnung, dass die Kinder sie hören und die Köpfe aus einem der Zimmer herausstrecken würden.
    »Von Anfang an haben Sie mich belogen! Und so ging es immer weiter. Ich glaube Ihnen kein Wort mehr! Ich will meine Kinder sehen. Jetzt! Haben Sie verstanden? Ich will jetzt sofort meine Kinder sehen!«
    Ihr fiel auf, dass der Doktor ihren Blick zu meiden suchte. Er wagte ihr nicht einmal in die Augen zu sehen. Das war der Beweis, dass er log.
    Dann gab er nach.
    »Sie möchten sie sehen? Gern. Wenn Sie möchten, können Sie sie sehen.«
    Sie schwieg. Plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie hatte nicht erwartet, dass er so schnell nachgeben würde. All ihr Mut war plötzlich dahin, und geblieben war nur die Angst, die sie die ganze Reise über begleitet hatte.
    Haarscharf ging er an ihr vorbei. Nun war sie diejenige, die ihn nicht anzublicken wagte.
    »Folgen Sie mir ruhig«, sagte er und ging die Treppe hinauf.
    »Sie können sie sehen«, hörte sie ihn noch einmal sagen, eher murmeln, als spräche er zu sich selber. »Aber die Mutter sind Sie nicht.«
     
    Er brachte sie zu den Kindern, wie sie es verlangt hatte, schloss die Tür auf und bat sie hinein.
    »Den Schlüssel«, befahl sie. »Ich will den Schlüssel haben. Ich will nicht, dass Sie mich einschließen.«
    Warum sollte ich das tun?, fragte er sich. Wie kommt sie darauf? Trotzdem gab er ihr den Schlüssel, den sie aber sogleich wieder fallen ließ, nachdem sie das Zimmer betreten hatte. Er sah, dass sie hyperventilierte, und wartete, bis sie ihren Atem wieder unter Kontrolle hatte. Dann fragte sie, was mit den Kindern los sei. Ob sie krank seien?
    »So etwas in der Art«, antwortete er.
    Sie deutete auf das ungemachte Bett. Ihre Hand zitterte.
    »Wo ist …«
    »Michael?«
    Ja, Michael meinte sie. Er sagte ihr die Wahrheit, aber sie wollte ihm nicht glauben.
    »Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. Sie lügen!«
    Er log nicht. Er wusste genau, dass er nicht log.
    »Wann? Seit wann?«, fragte sie.
    Genau konnte er es nicht angeben, aber doch ungefähr. Gelogen war es also nicht.
    »Vor ein paar Tagen.«
    »Sie lügen! Sie lügen! Sie lügen!«
    Das rief sie, immer lauter, und er begriff nicht, warum. Darum beschloss er, etwas deutlicher zu werden.
    »Ich lüge nicht. Und die hier …«, er deutete auf die anderen beiden Jungen, »… die gehen auch tot.«
    Das glaubte sie offenbar, denn sie fragte, wie lange sie noch zu leben hätten.
    »Ein paar Tage. Vielleicht eine Woche.«
    »Das ist nicht wahr!«, rief sie. »Sagen Sie, dass es nicht wahr ist.«
    Aber es war durchaus die Wahrheit.
    Da fing sie an zu heulen, und während er auf ihre zuckenden Schultern starrte, fragte er sich, warum sie so heulte. Sie war doch nicht ihre Mutter.
     
    »Darf ich kurz mit ihnen allein sein?«
    Der Doktor zuckte mit den Schultern und nickte. Dann drehte er sich um und verließ den Raum.
    Mit geschlossenen Augen atmete sie langsam ein und aus. Sie hatte getobt wie eine Besessene, wurde ihr

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