Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
Vom Netzwerk:
klar, und das in Gegenwart der Kinder. Sie musste sich entschuldigen. Auch dafür. Sie musste sich für so vieles entschuldigen, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Sie öffnete die Augen wieder. Keinen Moment hatte sie gedacht, dass sie nur geträumt haben könnte. Dafür war der Geruch zu penetrant. Er war ihr schon entgegengeschlagen, als Doktor Hoppe die Tür geöffnet und sie noch auf dem Flur gestanden hatte. Ein so durchdringender Gestank, dass es einem die Kehle zuschnürte. Ein fast schon greifbarer, sämiger Gestank.
    Die beiden Kinder saßen in kurzärmeligen Hemdchen aufrecht im selben Bett, dem mittleren. Das linke sah benutzt aus, die Decke war zurückgeschlagen; das rechte war unbezogen, und in der Mitte der Matratze befand sich ein gelblicher Fleck, der bis zu beiden Bettkanten hin ausgelaufen war.
    Sie musste sich zwingen, die Kinder anzusehen, und dabei kam ihr das Wort »Pappmaché« in den Sinn: Ihre Köpfe sahen aus wie aus Pappmaché. Lediglich an dem klaren Blick der Augen war zu erkennen, dass Leben in ihnen steckte. Sich selbst erkannte sie nicht in dem Blick. Auch sonst fand sie in den Gesichtern nichts von sich wieder. Nase, Mund, Ohren, Kinn, Kiefer, alles war anders als bei ihr selbst. Auch ihre Haut, ihre makellos glatte Haut hatten die Jungen nicht geerbt. Im Gegenteil. Die Krankheit hatte sie entstellt. Das musste es sein.
    Ich muss etwas sagen, dachte sie. Die Kinder saßen da wie erstarrt. Vielleicht hatten sie Angst vor ihr. Sie trat einen Schritt vor und sagte: »Es tut mir Leid, dass ich gerade so geschrien habe.«
    Kurz hatte sie durch die Nase geatmet und dabei wieder diesen fürchterlichen Gestank wahrgenommen. Auf der Suche nach der Ursache sah sie schnell um sich. Dabei fiel ihr auf, dass die Wände so gut wie kahl waren. Nur an einzelnen Stellen hingen noch Streifen oder Fetzen der Tapete, die offenbar nicht erst angeweicht, sondern einfach so von der Wand abgerissen worden war. Teilweise sah man noch schwarze Streifen und Striche, als wäre die Tapete bemalt oder beschrieben gewesen. Sie fragte sich, ob man sie wohl aufgrund von Schimmel oder Feuchtigkeit abgeschabt hatte, aber in keiner der Zimmerecken waren entsprechende dunkle Flecken zu sehen. Und der Gestank war auch kein schimmliger.
    Sie trat ans Fußende des Bettes, in dem die Jungen immer noch aufrecht saßen, Seite an Seite, ohne irgendeine Gefühlsregung in den Gesichtern, wie Reisende, die auf einen Bus warten. Den Gestank, der dem Bett, den Laken, den Decken, ja den Kindern selbst zu entströmen schien, nahm sie aus diesem Abstand sogar noch wahr, wenn sie durch den Mund atmete.
    Sie merkte, dass ihr schlecht wurde, und sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, wenn sie diesem Gestank nicht entfloh. Aber sie wusste auch, dass alles vorbei wäre, wenn sie jetzt wegliefe, dass sie dann nichts mehr tun könnte, für die Kinder nicht und für sich selbst auch nicht mehr, nie wieder in ihrem ganzen Leben.
    Sie sah die Kinder an. Ihre Kinder. Dann schritt sie zur Tat, schnell, mit angehaltenem Atem, ohne nachzudenken. Mit zwei Schritten war sie beim Bett angelangt und zerrte die Decken herunter, die schwer und feucht waren. Unten herum waren die beiden Jungen nackt, mager und zu weiten Teilen voll von Kot, der ihnen braun und dick an der Haut anbackte.
    Sie hob eins der Kinder hoch. Der Junge wog fast nichts. Auch das war ein Schock, aber es hielt sie jetzt nicht mehr zurück. Nichts hielt sie noch zurück. Sie hob auch den anderen Jungen hoch, indem sie ihm von hinten unter die Achsel griff. Mit einem reißenden Geräusch löste sich das Laken von seinem Unterleib.
    Sie lief aus dem Zimmer, die zwei Knaben auf den Armen. Nach dem Doktor sah sie sich nicht einmal um, doch selbst wenn er ihr im Weg gestanden hätte, wäre sie wahrscheinlich einfach so, ohne großes Geschrei, an ihm vorbeigelaufen. Denn während sie auf dem Flur eine Tür nach der anderen aufstieß, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie alle Schuld auf sich nehmen musste. Wenn sie die Kinder nicht verstoßen hätte, wäre all dies nicht passiert. Davon war sie überzeugt. Es war ihre Schuld. Ganz allein ihre Schuld.
    Im Badezimmer setzte sie die Kinder sofort in die Wanne. Sie zog ihnen die Hemdchen aus, nahm den Duschkopf und drehte das Wasser bis zum Anschlag auf, sodass ein kräftiger Strahl herauskam. Sie hielt ihre Hand darunter, um die Temperatur zu prüfen. Langsam wurde der Gestank erträglicher. Eine enorme

Weitere Kostenlose Bücher