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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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paar Sachen bei sich, um sich notfalls ein paar Tage irgendwo in der Gegend einzumieten.
    »Doktor Hoppe«, wiederholte der Busfahrer. »Da müssen Sie bei der Kirche aussteigen. Dann sind Sie schon fast da.«
    Kurz war sie sprachlos. Sie hatte nicht erwartet, so schnell jemandem zu begegnen, der den Doktor kannte. Sofort war sie wie gelähmt vor Angst.
    »Kennen Sie ihn persönlich?«, fragte sie schüchtern.
    Der Fahrer schüttelte den Kopf.
    »Nein, das nicht. Aber ich habe gehört, dass er ein hervorragender Arzt sein soll.«
    Am liebsten hätte sie gefragt, ob er auch etwas von den Kindern des Doktors wusste, aber vielleicht hätte sie dann weitere Erklärungen abgeben müssen, und das wollte sie um jeden Preis vermeiden. Außerdem hatte sie Angst, dass sie von seiner Antwort enttäuscht sein könnte. Also schwieg sie und starrte durchs Fenster nach draußen. Sie versuchte, nicht an die bevorstehende Begegnung zu denken, aber das gelang ihr nur halb. Jedes Mal, wenn der Bus an eine Haltestelle kam, rechnete sie damit, dass gleich der Doktor einsteigen würde.
    Der Bus verließ gerade eine Ortschaft namens Kelmis. Zuvor waren sie schon durch die Dörfer Montzen und Hergenrath gekommen.
    »Gleich sind wir in Wolfheim«, sagte der Fahrer. Er sah sie im Rückspiegel an. »Sie sprechen gut Deutsch«, bemerkte sie, in der Hoffnung, sich mit einer kleinen Unterhaltung ein wenig zu zerstreuen. »Ich dachte immer, in Belgien würde nur Französisch und Niederländisch gesprochen.«
    »Hier in der Gegend sprechen die meisten Leute in erster Linie Deutsch«, sagte der Fahrer. »Aber viele können auch Französisch und manche sogar Niederländisch. Die Sprach- und Landesgrenzen laufen hier schon seit Jahrhunderten kreuz und quer durcheinander. Kennen Sie das Dreiländereck?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Das ist nur ein paar Kilometer von hier entfernt. Auf dem Gipfel des Vaalserbergs. Da treffen die Grenzen von Belgien, den Niederlanden und Deutschland in einem Punkt zusammen. Das müssen Sie sich unbedingt mal ansehen. Sie können auch einfach sitzen bleiben. Ich fahre bis zum Dreiländereck und kehre dort um. Dann können Sie auf dem Rückweg in Wolfheim aussteigen.«
    »Ein andermal vielleicht«, sagte sie mit einem Lächeln. »Heute habe ich nicht so viel Zeit.«
    Sie wusste eigentlich gar nicht, wie viel Zeit sie hatte und wie viel sie brauchen würde. Sie wusste nicht einmal mehr, was sie sagen wollte, wenn sie dem Doktor gegenüberstünde, obwohl sie im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden, während der langen Zugreise, einige erste Sätze eingeübt hatte.
    Der Bus bog rechts ab und fuhr an einem Schild mit der Aufschrift »Wolfheim« vorbei. Die Straße war mit Klinkersteinen gepflastert, auf denen die Räder des Busses ein rhythmisches Fahrgeräusch machten. Durch die Windschutzscheibe hindurch kam nun ein Kirchturm in Sicht.
    »Das ist Ihre Haltestelle«, sagte der Busfahrer und fuhr nun langsamer.
    Sie fing an, ihren Mantel zuzuknöpfen. Der Fahrer sah ihr im Rückspiegel dabei zu.
    »Vor ein paar Monaten ist hier ein tragisches Unglück passiert«, sagte er dann. »Ein Kollege von mir hat hier einen kleinen Jungen totgefahren.«
    Sie spürte, dass sie blass wurde. Genau diese Neuigkeit hatte sie die ganze Zeit befürchtet. Sie wusste auf Anhieb, dass es nur eines ihrer eigenen Kinder gewesen sein konnte. Dass sie also zu spät kam. Sie fröstelte am ganzen Leib. Was der Busfahrer weiter sagte, hörte sie zwar, aber bekam es kaum noch mit.
    »Mein Kollege ist seitdem zu Hause. Er traut sich nicht mehr zu fahren. Ich vertrete ihn im Moment auf seiner Strecke.«
    Der Bus fuhr rechts heran.
    »Da wären wir«, sagte der Fahrer und öffnete die Türen. »Dort drüben ist das Haus des Doktors.«
    Er deutete durch die Windschutzscheibe auf ein hohes Haus ein Stück weiter vorne.
    Mechanisch nickte sie. Sie stand auf, nahm ihren Koffer und schlurfte zum Ausgang.
    Es hatte gerade geregnet, und eine Brise strich ihr übers Gesicht. Sie stellte den Kragen ihres Mantels auf und starrte zu Boden, bis der Bus weg war. Als das Geräusch des Motors verklungen war, drang das Gejohle spielender Kinder an ihr Ohr. Sie drehte sich um und sah ein Stück entfernt, auf der anderen Straßenseite, ein paar Kinder um eine Pfütze herumtollen. Es waren vier Jungs, und sie schätzte sie auf ungefähr fünf Jahre, vielleicht ein bisschen jünger. Etwa eine Minute lang folgte sie ihnen regungslos mit den Blicken und lauschte ihren

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