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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Mattigkeit ergriff von ihr Besitz.
    »Es tut mir so Leid, es tut mir so Leid«, jammerte sie.
     
    Frisch geschlüpfte kleine Vögelchen. So kamen die Kinder ihr vor, als sie sie abtrocknete. Nicht nur weil sie so verletzlich, so zerbrechlich, so hilflos erschienen, sondern auch weil sie so rosig und kahl waren und ihre Haut ihnen zu weit geworden zu sein schien. Und weil die kugelrunden Augen in den eingefallenen Gesichtern so groß wirkten. Und weil sie, wenn sie nach Luft schnappten, die Münder wie Schnäbel auf- und zusperrten. Gierig, als hätten sie wegen des Gestanks das Atmen die ganze Zeit über auf ein Minimum beschränkt.
    Beim Waschen zeigten sie keinerlei Reaktion. Sie heulten nicht, sie schrien nicht, sie sträubten sich nicht. Aber beim Abtrocknen lebten sie nach und nach auf. Vorsichtig, ganz so, als würde sie aus dem Nest gefallene Vogeljunge bergen, hob sie ein Kind nach dem anderen aus der Wanne und setzte es auf eine kleine Bank, denn auf ihren dünnen Beinchen konnten sie nicht stehen. Ganz vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen, tupfte sie dann die zerbrechlichen Kinderkörper mit einem Handtuch trocken. Wo immer sie sie berührte, spürte sie Knochen.
    Ein paar Tage. Vielleicht eine Woche.
    Die Stimme des Doktors hallte in ihrem Kopf nach.
    »Alles wird gut«, sagte sie, wie um diese Stimme zum Schweigen zu bringen. »Alles wird gut. Jetzt bin ich ja da. Ich bin da.«
    Wie Ertrinkende, die man gerade aus dem Wasser gezogen hatte, fingen sie langsam wieder zu atmen an.
    Und dann fragte einer der Jungen etwas: »Ist Michael im Himmel?«
    Eine Stimme, die klang wie unter einem Stiefel zermalmtes Glas.
    »Ob Michael im Himmel ist?«, wiederholte sie, um Zeit zu gewinnen, über die Antwort nachzudenken. Wussten die Kinder, dass ihr Brüderchen tot war? Hatten sie ihn sterben sehen? Oder hatte Doktor Hoppe ihn rechtzeitig weggeholt?
    Sie beschloss, die Wahrheit zu sagen. Vielleicht fanden die Kinder es dann hinterher weniger schlimm, selbst zu sterben. Darum fügte sie noch etwas hinzu.
    »Ja, Michael ist im Himmel. Da wartet er auf euch.«
    Sie sah weder Kummer noch Angst in ihren Augen. Die Kinder reagierten lediglich mit einem Nicken. Ihr selbst fiel es schwerer, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Um sich abzulenken, fragte sie nach den Namen der Kinder.
    »Gabriel.«
    »Raphael.«
    Namen, die ihr fremd in den Ohren klangen, genau wie schon Michael. Sie selbst hätte sie nie so genannt. In all den Jahren hatte sie sich viele Namen für sie ausgedacht und war schließlich bei Klaus, Thomas und Heinrich gelandet. Klaus, Thomas und Heinrich Fischer. Denn natürlich hätten sie ihren Nachnamen bekommen.
    »Ich heiße Rebekka«, sagte sie, »Rebekka Fischer.«
    Sie hatte noch hinzufügen wollen, dass sie ihre Mutter war, es dann aber doch lieber gelassen, um die Kinder nicht zu sehr aufzuwühlen. Das würde sie ihnen im Lauf des Tages schon noch erzählen, wenn sie sich erst einmal an sie gewöhnt hätten. Erst musste sie ihnen vermitteln, dass sie sie nicht ihrem Schicksal überlassen würde. Nicht so wie der Doktor.
    Wie konnte er nur? Wie konnte er nur?
    Während sie im Schlafzimmer auf die Suche ging nach sauberen Pyjamas, war es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen: Er liebte die Kinder nicht. Das war es. Er liebte sie nicht, weil es nicht seine waren. Weil es ihre waren. Darum hatte er sie so verwahrlosen lassen. Bei diesem Gedanken wurde ihr noch schmerzhafter als zuvor bewusst, dass sie ihm die Kinder nie hätte überlassen dürfen. Es war der größte Fehler, den sie je in ihrem Leben begangen hatte, und er war nicht wieder gutzumachen. Das Einzige, was sie jetzt noch tun konnte, war für sie da zu sein, für die beiden, die noch am Leben waren. In der kurzen Zeit, die ihnen noch blieb.
    Sie hatte die Kinder angezogen. Unterhosen, Hemdchen, Pyjamas. Fürsorglich und zärtlich. So wie früher bei ihren Puppen. Am liebsten hätte sie sie mitgenommen, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie mit ihnen hin sollte. Nach Hause? Das war viel zu weit. Dazu waren sie viel zu schwach. In ein Krankenhaus? Wenn sie das tat, war sie sie wahrscheinlich ein für alle Mal los. Wer sollte ihr je glauben, dass sie die Mutter war? Wenn selbst die Kinder sie all die Zeit über nie zu Gesicht bekommen hatten? Sie selbst würde man der Kindesverwahrlosung bezichtigen, nicht den Doktor. Und sie könnte dem nicht einmal widersprechen, würde es auch nicht wollen. Aber ab jetzt würde sie für die Kleinen

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