Der Engelmacher
konnte. Sie schrie. Sie kreischte.
Daraufhin hatte er irgendetwas in ihren Infusionsschlauch getan.
»Sie brauchen sie nicht zu sehen morgen«, hatte sie ihn noch sagen hören. »Wenn Sie nicht möchten, brauchen Sie sie nicht zu sehen.«
Aber es war ihr nicht gelungen, die Kinder zu vergessen, so sehr sie es auch wollte, denn sie hatten eine unauslöschliche Spur auf ihrem Unterleib hinterlassen, über die gesamte Breite.
Es war eine hässliche Narbe geworden. An ein paar Stellen hatte die Wunde angefangen zu eitern, und geraume Zeit lang war sie weiter damit herumgelaufen, ohne sie zu verarzten. Aus Scham, aber auch, weil sie sich auf diese Art und Weise selbst bestrafen wollte. Erst als es sich angefühlt hatte, als steckten Hunderte von Nadeln in ihrem Bauch, war sie in die Notaufnahme des Krankenhauses gegangen. Die Fäden waren zu diesem Zeitpunkt bereits drei Wochen überfällig.
Sie hatte behauptet, es sei eine Missgeburt gewesen. Ein Notkaiserschnitt bei einer Auslandsreise. Der Arzt, der die Fäden zog, hatte gefragt, ob der Chirurg vielleicht ein Schlachter gewesen sei. Derartiges Flickwerk habe er noch nie gesehen. Sie hatte die Zähne zusammenbeißen müssen, aber geschwiegen. Es war das einzige Mal, dass sie jemandem die Narbe gezeigt hatte.
Die Narbe blieb ihr wunder Punkt. Jede Berührung tat weh. Enge Kleidung konnte sie nicht mehr anziehen. Oft war ihr Bauch geschwollen. Dadurch konnte sie die Narbe nie vergessen. Es kam ihr vor, als wäre an der Stelle nicht etwas aus ihr herausgeholt, sondern etwas in sie hineingestopft worden, was ständig von innen an der Bauchdecke scheuerte.
Eine neue Beziehung hatte sie nie wieder angefangen. Wie sollte jemand anders ihren Körper mögen, wenn sie selbst davon angewidert war? Und solange sie allein blieb, brauchte sie zumindest niemandem irgendetwas zu erklären. Die Einsamkeit nahm sie in Kauf.
Das Geld, das sie von dem Doktor verlangt und auch sofort ausgezahlt bekommen hatte, hatte ihren Schmerz nur wenig gelindert. Sie hatte gehofft, damit ihr Gewissen beruhigen zu können, so als hätte sie lediglich ihren Körper zur Verfügung gestellt, nicht ihren Geist. Aber hinterher war sie sich vorgekommen wie eine Hure. Schlimmer noch als eine Hure.
Aber sie hatte das Geld gebraucht, um ihre Schulden zu bezahlen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Also hatte sie es behalten und zugelassen, dass ihr Gewissen langsam zu einer eiternden Wunde wurde.
Sie hatte sich schon ein paar Mal vorgenommen, die Kinder aufzuspüren. Sie wollte wissen, ob es ihnen gut ging. Wenigstens das. Das hätte ihr Gewissen schon beträchtlich beruhigt. Aber immer wieder hatte sie es sich anders überlegt. Dann hatte sie weiter die Monate und Jahre gezählt. Doch je älter die Kinder wurden, desto stärker wurde auch der Drang, sie zu sehen.
Der 29. September war stets der schwerste Tag des Jahres. Der Schmerz in ihrem Bauch war um diese Zeit herum immer kaum auszuhalten. An dem Tag, als die Kinder vier wurden, hatte sie zum x-ten Mal ihren Beschluss gefasst. In dem Alter würden sie sich bestimmt allmählich fragen, wer ihre Mutter war. In dem Alter brauchten Kinder eine Mutter. Trotzdem hatte sie noch ein paar Monate gewartet. Mut gefasst. Und schließlich hatte sie den ersten Schritt unternommen.
6
Sie kam am Sonntag an, den 14. Mai 1989. Pfingstsonntag. Tags zuvor war sie mit dem Zug von Salzburg nach Luxemburg gereist, wo sie übernachtet hatte. Am frühen Morgen war sie nach Lüttich weitergefahren und dort in einen Nahverkehrszug nach La Chapelle gestiegen, von wo aus stündlich ein Bus abfuhr, der unter anderem in Wolfheim hielt.
»Wo möchten Sie denn aussteigen? Bei der Kirche?«
Zu ihrer Überraschung sprach der Busfahrer sehr gutes Deutsch.
»Zur Napoleonstraße muss ich. Zu Doktor Hoppe. Doktor Victor Hoppe.«
Sie hatte die Reise auf gut Glück angetreten und wusste nicht, ob sie ihn antreffen würde. Seine Adresse und seine Telefonnummer hatte sie ein paar Tage zuvor über die internationale Auskunft bekommen, aber sie hatte ihn nicht vorher angerufen, nicht einmal, um zu sehen, ob er zu Hause abnähme. Sie hatte Angst davor gehabt, seine Stimme zu hören. Und womöglich hätte sie es dann nicht mehr gewagt, sich tatsächlich auf die Suche nach ihren Kindern zu machen. Selbst jetzt, da sie schon so weit gekommen war, wusste sie noch nicht, ob sie den Mut finden würde, auch tatsächlich an seiner Haustür zu klingeln. Zumindest hatte sie Geld und ein
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