Der Engelmacher
sie zumacht. Sie hat noch irgendeine Kleinigkeit für mich zu tun.«
»Ach, wart kurz, ich habe noch was zum Aufhängen. Einen ganz kleinen Augenblick.«
Sie lief zu dem Pult, wo sie den Karton abgestellt hatte, nahm den Deckel ab, grub darin herum und holte ein Kruzifix heraus.
»Was ist das?«, fragte einer der Jungen.
»Das ist Jesus«, sagte sie.
»Der Sohn eines Zimmermanns«, fügte Florent mit einem Augenzwinkern hinzu und hielt den Hammer hoch, den er aus seiner Werkzeugkiste herausgeholt hatte.
»Und warum hängt er an einem Kreuz?«, fragte der Junge.
»Das erzähle ich euch ein andermal«, sagte Frau Maenhout. »Der Herr Florent muss jetzt dringend weg.«
Sie gab ihm das Kruzifix und drehte sich um.
»Über die Tür«, sagte sie und deutete auf die entsprechende Stelle.
Er nickte, lehnte seine Leiter an die Wand und fing an, den Nagel einzuschlagen.
»Geben Sie auch Religionsunterricht?«, fragte er mit einem halben Blick über die Schulter.
»Ja, der Doktor möchte das gern.«
»Tatsächlich? Ich wusste gar nicht, dass der Doktor gläubig ist.«
Noch eine Neuigkeit, die er erzählen konnte. Die Leute im »Terminus« würden den Mund vor Staunen nicht mehr zukriegen.
»Oh doch, Florent. Nur weil einer nicht in die Kirche geht, muss er ja nicht ungläubig sein.«
»Er hat natürlich auch wenig Zeit, um in die Kirche zu gehen.«
»Du sagst es, Florent.«
Sie reichte ihm das Kreuz, das er an den Nagel hängte.
»So, der hängt jetzt erstmal für die nächsten tausend Jahre«, sagte er lachend, während er von der Leiter herunterstieg. Er nahm seine Werkzeugkiste vom Boden, steckte den Arm zwischen den Sprossen hindurch und hängte sich die Leiter über die Schulter. »Wenn’s mal wieder was zu tun gibt, sagen Sie ruhig Bescheid, Frau Maenhout.«
Mit einem Kopfnicken verabschiedete er sich und warf einen letzten Blick auf die Kinder. Baufällig, das war das Wort, das ihm plötzlich in den Sinn kam. Sie sahen baufällig aus. Wie ein unbewohntes Haus, das jahrelang Wind und Wetter ausgesetzt war und immer mehr verkommen ist.
Am nächsten Morgen hatte Frau Maenhout das Kruzifix in der obersten Lade des Pults vorgefunden. Automatisch war ihr Blick zu der Stelle über der Tür gewandert, wo sogar der Nagel verschwunden war, an dem es gehangen hatte. Die Vermutung, die sie dabei beschlich, wurde am Ende des Tages auf ihre Nachfrage hin von Doktor Hoppe bestätigt.
»Ja, das habe ich abgenommen«, war seine Antwort.
Sogleich bereute sie, dass sie sich am Tag zuvor gegenüber Florent Keuning so zurückgehalten hatte. Als er seine neugierigen Fragen über den Doktor gestellt hatte, hatte sie zunächst ganz andere, weniger nette Dinge erzählen wollen. Eigentlich hatte sie einfach die Wahrheit sagen wollen, aber sie wusste, dass ihre Wahrheit als Verleumdung aufgefasst und über andere Kanäle auch wieder beim Doktor ankommen würde.
»Aber warum denn? Sie wollten doch, dass ich den Kindern von Jesus erzähle.«
»Von seinen Taten. Sie müssen über sein Leben sprechen. Über das Gute, das Er getan hat. Nicht über seinen Tod.«
»Der Tod ist ein Teil des Lebens«, antwortete sie. »Das müssten Sie doch eigentlich wissen.«
»Natürlich, natürlich. Aber darum brauchen wir doch nicht ständig einen Toten anzusehen.«
»Es ist doch nur ein Bildnis.« Ihre Stimme war leicht erhoben.
»Gott hat Ihn verraten«, sagte er unvermittelt. Er hatte ihre Bemerkung nicht einmal gehört. Hatte nicht einmal aufgesehen.
»Was sagen Sie?«
»Gott hat nichts getan, um Ihn zu retten, als Er da am Kreuz hing. Sein eigener Sohn. Müssen wir dieses Bild im Gedächtnis behalten? Müssen wir daran erinnert werden?«
Sie musste an das ein paar Tage zurückliegende Gespräch denken, als er sie gebeten hatte, nur von Jesus, nicht aber von Gott zu erzählen. Sollte das der Grund gewesen sein: dass Gott nichts getan hatte, um Jesus vom Kreuz zu erretten?
»Sie irren sich.« Sie sagte es mit einem Nachdruck, der sie selbst überraschte. Es war das erste Mal, dass sie dem Doktor unumwunden zu widersprechen wagte. Sie wusste auch, warum: weil er ihr plötzlich vorkam wie ein Schüler. Ein kleiner Junge, dem sie etwas beibringen musste.
»Sie irren sich«, wiederholte sie, »das Kreuz steht symbolisch für das Leiden Jesu.«
»Das meine ich ja. Das müssen wir doch nicht ständig vor Augen haben. Sein Leiden.«
»Das müssen wir sehr wohl. Damit wir nie vergessen, dass Er sein Leben für uns geopfert hat.«
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