Der Engelmacher
gefunden. Aus eigenem Antrieb hatte der Doktor diese Übungen täglich fortgesetzt, wenn Frau Maenhout bereits gegangen war. Sie war davon angenehm überrascht gewesen. Offenbar versuchte er endlich, etwas Nähe zu seinen Kindern herzustellen. Anscheinend hatte er sie endlich richtig angenommen.
»Manche Männer können mit kleinen Kindern nichts anfangen«, bemerkte Hannah Kuijk, mit der sie solche Dinge besprach. »Sie haben keine Geduld. Kein Verständnis. Für sie sind Kinder Maschinen, die lediglich Lärm und Scheiße produzieren. Erst wenn sie älter und vernünftiger werden – und aus der Sicht solcher Leute damit auch menschlicher –, lernen sie, mit ihnen umzugehen.«
Die Zukunft gab Hannah jedoch leider Unrecht. Die Begeisterung Doktor Hoppes war nur von kurzer Dauer. Etwa drei Monate lang hielt er es durch, jeden Tag mit seinen Söhnen zu üben, danach kam es immer wieder vor, dass er einzelne Tage ausließ. Er entschuldigte sich dann damit, er habe viel zu tun gehabt. Die Kinder bestätigten das: Ihr Vater saß ständig über Büchern mit schwierigen Wörtern und über Tabellen mit langen Zahlenreihen gebeugt, oder er arbeitete unablässig im Labor, während sie an dem Schreibtisch in seinem Sprechzimmer ihre Übungen machten.
In den darauffolgenden Wochen entschuldigte er sich nicht einmal mehr, sodass Frau Maenhout die Kinder selbst fragen musste, ob ihr Vater noch Zeit dafür erübrigt hatte, mit ihnen zu lesen oder zu rechnen.
Sie fand es schade, dass der Doktor immer weniger Interesse an den Fortschritten seiner Sprösslinge zeigte, aber es ermöglichte ihr zugleich, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Also hatte sie eines Morgens eine Kinderbibel aufgeschlagen und Michael, Gabriel und Raphael die Schöpfungsgeschichte erzählt, so wie sie es früher immer am Anfang des Schuljahrs getan hatte. Über Jesus sagte sie nichts, nicht so sehr aus Rache am Doktor als vielmehr, weil sie sich an die Reihenfolge der Bibel hielt. Am nächsten Tag hatte sie also mit Adam und Eva weitergemacht und einen Tag darauf über den Sündenfall gesprochen. Danach über Kain und Abel, über die Sintflut und den Turmbau zu Babel. Nie las sie länger als eine Viertelstunde am Tag aus der Kinderbibel vor, manchmal sogar kürzer, denn immer wenn sie die Schritte Doktor Hoppes auf dem Flur zu hören meinte, klappte sie das Buch zu und steckte es schnell weg, mochte auch Moses kurz davor sein, das Rote Meer zu teilen, oder Abraham gerade das Messer erhoben haben, um seinen einzigen Sohn Isaak zu töten.
Die Kinder lauschten den biblischen Geschichten genauso atemlos wie zuvor den Märchen, die sie erzählt hatte, und wollten hinterher immer darüber reden. Umso mehr hatte sie ihnen eingeschärft, dass sie ihrem Vater gegenüber schweigen mussten.
»Ein Geheimnis. Wir haben ein Geheimnis«, hatten sie da gerufen, und Frau Maenhout hatte gleich gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann sie sich verplappern würden. Dann würde sie sehen müssen, wie sie sich aus der Affäre zog.
Das Interesse des Doktors nahm allerdings immer mehr ab, und am Ende erkundigte er sich nicht einmal mehr danach, was im Klassenzimmer passierte. Er sprach weder seine Kinder noch sie darauf an, und tat er es doch einmal, dann eher aus Höflichkeit denn aus Interesse, Sie hatte immer mehr das Gefühl, dass er sie bloß gewähren ließ, nicht weil sie ihre Sache so gut machte, sondern in der Hoffnung, dass sie sich dann umgekehrt weniger dafür interessieren würde, was er selbst tat. Nachdem er sie eine Zeit lang in Ruhe gelassen hatte, hatte er nämlich wieder damit angefangen, seine Söhne ausgiebig zu untersuchen. Es waren auch neue Geräte angekommen, etwa ein Ultraschallgerät und ein Röntgenapparat, und noch mehr als zuvor schienen seine Söhne wieder als Versuchskaninchen zu fungieren. Dadurch war die Beziehung zwischen dem Doktor und den Kindern wieder kühler geworden. Von Annäherung konnte keine Rede mehr sein.
Hannah Kuijk hatte dafür wiederum eine andere Erklärung parat. Diesmal meinte sie zu wissen, dass der Doktor an Bindungsangst litt: »Seit er seine Frau verloren hat, hat er Angst davor, einem anderen Menschen seine Liebe zu schenken. Wenn einem seiner Söhne etwas zustoßen sollte, will er denselben Schmerz nicht noch einmal empfinden.«
Diese Worte ließen sie seither nicht mehr los.
Es hatte angefangen, als Raphael eines Tages einen Zahn verlor. Nichts Ungewöhnliches, wenn auch ein bisschen früh für
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