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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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er.
    Sie kannte die Lehranstalt oder zumindest ihren Ruf. Die Schüler wurden streng katholisch erzogen, und im Falle des Doktors hatte diese Erziehung deutliche Spuren hinterlassen. Was er dort wohl für Erfahrungen gemacht hatte?
    »Wie fanden Sie …«, begann sie, aber er unterbrach sie abrupt.
    »Ich habe noch viel zu tun, Frau Maenhout. Ein andermal.«
    »Ja, ein andermal«, stimmte sie enttäuscht zu.
    Kurz hatte sie gedacht, es wäre ihr gelungen, der Mauer, die er um sich gezogen hatte, einen Riss beizubringen. Aber wieder hatte sie sich getäuscht.
     
    Drei Tage brauchte Florent Keuning, um eins der Zimmer auf der ersten Etage des Doktorhauses so herzurichten, dass es als Klassenzimmer genutzt werden konnte. Er strich Decke und Wände, schliff die alten Holzdielen ab und bohnerte sie neu, ölte die rostigen Scharniere des Fensters und brachte die schwarze Schultafel an, die Doktor Hoppe zusammen mit drei hölzernen Schulbänken und einem Lehrerpult bestellt hatte. Während der ganzen Zeit sah und hörte er nichts von den Kindern, und er hatte die Hoffnung im Grunde schon aufgegeben, als sie plötzlich doch ins Klassenzimmer kamen, wahrscheinlich davon angelockt, dass er absichtlich laut gerufen hatte: »So, ich bin fertig! Die Kinder vom Herrn Doktor werden sich freuen!«
    Ohne ihn auch nur anzusehen, liefen die drei kleinen Jungen direkt auf die drei Bänke zu. Sie setzten sich jeder in eine eigene Bank, obwohl sie ohne weiteres zu dritt in eine gepasst hätten, so klein und schmächtig waren sie. Ihre Füße reichten nicht bis auf den Boden, sodass ihre kurzen Beine unter der Bank in der Luft baumelten. Sie strichen mit den Fingern über das Holz, während der Gelegenheitsarbeiter, fast ohne mit der Wimper zu zucken, die drei kahlen Schädel betrachtete. Die blauen Adern, die unter der dünnen Haut sichtbar waren, erinnerten ihn an die bizarren Linien in manchen Marmorsteinen.
    Die Kinder untersuchten erst das Pult, dann die Haken für die Schultasche, das Fach, wo sie Bücher und Hefte ablegen konnten, und schließlich die Rille, die über die gesamte Breite in die Oberfläche der Bank hineingefräst war.
    »Da könnt ihr eure Bleistifte und Füller hineinlegen«, sagte Florent. Als sie seine Stimme hörten, sahen die drei kurz auf. Der Handwerker erschrak über den Anblick, den sie boten. Lediglich die Narben über den Oberlippen und die platten Nasen waren noch so, wie er sie von seinem letzten Besuch im Haus des Doktors in Erinnerung hatte. Natürlich waren die Kinder inzwischen gut zwei Jahre älter, aber selbst für diese Zeitspanne war die Veränderung enorm. Es schien, als wären sie um Jahre gealtert, und das kam nicht nur durch ihre kahlen Schädel, sondern auch durch die großen, dunklen Ringe unter den Augen, durch die die Gesichter ausgemergelt wirkten, und durch die fehlenden Augenbrauen. Es war, als trügen sie alle drei Masken, bei denen lediglich zwei runde Löcher für die Augen ausgespart waren, und als passte der Kopf bei keinem der drei Jungen zum Körper. Trotz all dieser Veränderungen sahen sie sich aber immer noch so ähnlich, dass selbst dem geübten Handwerkerauge, das stets mühelos gerade von krumm unterscheiden konnte, keine Unterschiede auffielen. Weil sie ihn alle drei ansahen, als hätten sie nicht begriffen, was er gesagt hatte, holte er seinen Bleistift hinter dem rechten Ohr hervor und legte ihn in die Rille der mittleren Bank.
    »Schaut, so!«, sagte er.
    Der Junge, der vor ihm saß, runzelte die Stirn.
    »Das haben wir schon kapiert«, sagte er leicht verärgert. »Halten Sie uns für dumm?«
    Florent erschrak erneut, diesmal über die Stimme, die der des Doktors ähnelte, aber viel höher war und dadurch fast so unerträglich, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Schultafel kratzen.
    »Wir können schon lesen und schreiben«, sagte ein anderer der drei. Er glitt aus seiner Bank und lief zur Tafel.
    »Kreide liegt in dem Kästchen«, sagte der Handwerker verlegen.
    Der Junge nahm ein blaues Stück Kreide, stellte sich auf die Zehenspitzen und fing an zu schreiben. Eine geschwollene Ader zog sich quer über die Rückseite seines Schädels, von einem Ohr zum anderen, wie das Umhängeband einer Brille. Die beiden anderen eilten ebenfalls nach vorne und stellten sich mit einem Stück Kreide in der Hand neben ihren Bruder. Ihre Hinterköpfe wiesen dieselbe große Ader auf. Florent bemerkte auch, dass sie alle drei linkshändig waren und noch immer die

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