Der Engelmacher
Aber mir wäre es lieber, wenn Sie es tun.«
Sie war unschlüssig und hatte Angst, etwas Falsches zu sagen.
»Sie überfallen mich, Herr Doktor. Ich brauche ein bisschen Zeit«, sagte sie, »ich muss darüber nachdenken.«
»Morgen will ich es wissen. Es liegt im Interesse der Kinder, Frau Maenhout. Und im Interesse der anderen. Aller anderen.«
Sie verstand ihn nicht.
»Wie meinen Sie das? Welcher anderen?«
»Der Menschen.«
Sie sah ihn fragend an, aber wie meist hielt er auch jetzt den Blick gesenkt. Nicht weiter drüber nachdenken, dachte sie, er schwatzt einfach irgendwas daher. Auf die Kinder kommt es an. Auf ihre Interessen. Und auf nichts weiter. Da hat er Recht.
Sie hatte ihre Forderungen gestellt. Wenn er sie als Lehrerin haben wollte, dann konnte er sie bekommen. Aber zu ihren Bedingungen.
Zunächst hatte sie darauf bestanden, dass er in einem der ungenutzten Räume im ersten Stock ein Klassenzimmer einrichten ließ, sodass die Kinder das Gefühl bekämen, tatsächlich zum Unterricht und hinterher wieder nach Hause zu gehen. Dass sie dadurch selbst mehr Freiheit und vor allem Privatsphäre hätte als in der Küche oder im Wohnzimmer, spielte natürlich auch eine Rolle, aber das hatte sie wohlweislich verschwiegen. Außerdem wollte sie Extrazeit dafür bekommen, denn in den vier Stunden täglich würde sie niemals Haushalt und Unterricht unterbringen. Sie hatte hinzugefügt, dass sie nicht mehr Bezahlung bräuchte, aus Angst, dass er sonst möglicherweise nicht einverstanden wäre. Hinterher hatte sie es bereut, denn er hatte sofort zugestimmt, ohne auch nur gefragt zu haben, an wie viele Extrastunden sie gedacht hatte.
Sie hatten beschlossen, dass sie fortan jeden Werktag von halb neun bis halb zwölf Uhr morgens und von fünf bis acht Uhr abends kommen würde, also pro Tag zwei Stunden mehr als bislang. Wie sie die Stunden einteilte, durfte sie selbst bestimmen. Auch hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie jeweils eine Woche in Französisch und die nächste in Deutsch unterrichten sollte.
»Wenn sie dann später noch ein bisschen Englisch lernen, können sie mit der halben Welt kommunizieren.«
Kommunizieren setzt mehr voraus als nur Sprachbeherrschung, hatte sie gedacht, es aber für sich behalten.
Zum Schluss hatte er noch ein Anliegen gehabt, das sie vollkommen überrascht hatte.
»Könnten Sie ihnen etwas über Jesus erzählen?«
»Wie bitte?«
»Über Jesus. Aus dem Neuen Testament.«
»Über Jesus«, wiederholte sie und zog die Brauen zusammen.
»Über Jesus, nicht über Gott«, sagte er nachdrücklich. »Nur über Jesus.«
»Nur über Jesus?«
»Ja, nur das Neue Testament, nicht das Alte.«
Sie dachte, sie hätte sich verhört. Zum einen hatte sie nichts weniger erwartet, als dass der Doktor gläubig wäre, und zum anderen fragte sie sich, wie sie denn von Jesus erzählen sollte, ohne dass dabei auch Gott zur Sprache kam. Sie hatte noch einmal explizit gefragt: »Also über Jesus schon, aber nicht über Gott?«
»Genau.«
»Das geht doch nicht. Das ist unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich, Frau Maenhout. Schwierig vielleicht, aber nicht unmöglich.«
Sie beschloss, nicht näher darauf einzugehen. Sie war schon froh, dass sie Michael, Gabriel und Raphael überhaupt Religionsunterricht geben durfte, wenn auch mit Einschränkungen.
Also hatte sie nur noch gesagt: »Ich wusste gar nicht, dass Sie gläubig sind. Sie gehen doch nie in die Kirche.«
Der Doktor hatte geantwortet: »Die Kirche ist das Haus Gottes. Da habe ich nichts zu suchen.«
»Und Gott in diesem Hause also auch nichts«, hatte sie gesagt und es eigentlich als Scherz gemeint, weil sie dem Doktor vor Augen führen wollte, was für einen Unsinn er ständig von sich gab.
Aber der Doktor war ernst gelieben. »Gott ist überall«, hatte er gesagt, »im Himmel, auf der Erde und an allen Orten.«
Das war ein Zitat aus dem Katechismus. Die Antwort auf die Frage: »Wo ist Gott?«. Sie selbst hatte das Glaubensbekenntnis ebenfalls noch auswendig lernen müssen und es auch nie vergessen.
»Wo sind Sie eigentlich auf die Schule gegangen?«, fragte sie, teils aus Neugier, teils, weil sie gern das Thema wechseln wollte. Sie hatte keine Lust, mit ihm über den Glauben zu diskutieren. Es war schon schwer genug, ein ganz normales Gespräch mit ihm zu führen.
Er dachte kurz nach, bevor er antwortete.
»In Eupen.«
»Bei den Brüdern der Christlichen Schulen?«
Er nickte.
»Auf dem Internat?«
Wieder nickte
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