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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit geweckt. Etwas in ihren Worten musste ihn getroffen haben, und darum setzte sie den einmal eingeschlagenen Weg schnell fort.
    »Indem er sein Leben geopfert hat, hat er die Menschen von ihren Sünden erlöst. Und indem er auferstanden ist, hat er gezeigt, dass er über Leben und Tod steht. Dass er immer für alle Menschen da sein wird. Darum gedenken wir seines Todes. Darum müssen wir das Kreuz in Ehren halten.«
    Und in Gedanken daran, was der Doktor einmal zu ihr gesagt hatte, fügte sie noch mit Nachdruck hinzu: »Wir. Die Menschen.«
    Es war eine sehr einfache Erklärung gewesen, als hätte sie tatsächlich zu einem kleinen Jungen gesprochen. Vielleicht konnte sie auch nicht mehr anders nach all den Jahren des Unterrichtens. Der Doktor selbst hatte allerdings auch in ziemlich kindischer Weise reagiert. Kopfschüttelnd und wutschnaubend war er davongelaufen. Sprachlos war sie zurückgeblieben.
     
    Sie hatte das Kruzifix nicht wieder aufgehängt. Sie wollte ihn nicht provozieren. Sie konzentrierte sich auf den Unterricht. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, wenn die Jungs den ganzen Tag über miteinander oder mit Bauklötzen gespielt hätten, wie es sich für ihr Alter gehörte. Aber weil sie so wissensdurstig waren und beinahe schon darum bettelten, gab sie eben doch ihre Stunden. Sie tat es sogar mit großer Hingabe, obwohl ihr bewusst war, dass sie dadurch zur Komplizin des Vaters wurde, der offenbar Wunderkinder oder so etwas Ähnliches aus den Kleinen machen wollte.
    Die Unterrichtsstunden vergingen vor allem mit Lesen und Rechnen, ab und zu erzählte sie auch etwas oder ließ die Kinder etwas schreiben, wofür es eindeutig noch zu früh war – die Feinmotorik der drei, die in körperlicher Hinsicht durchaus noch kleine Kinder waren, war noch nicht genügend entwickelt. Religion hatte sie auch noch nicht in den Unterrichtsplan aufgenommen. Was der Doktor in den vergangenen Tagen zu dem Thema gesagt hatte, hatte Zweifel bei ihr wachgerufen. Es schien ihr vernünftiger abzuwarten. Die Kleinen hatten mit Lesen, Rechnen und Zuhören schließlich schon genug zu tun, auch wenn sie immer mehr wollten. Selbst wenn sie müde waren, wollten sie noch weiter üben. Auch gab es ein Fach, das sie besonders interessierte und das schon allein durch den Klang seines Namens ihre Phantasie beflügelte: Erdkunde, das Wissen über die weite Welt. Jeweils am Anfang der Woche durfte einer der Jungen auf der Europakarte ein Land zeigen, über das er dann schon ein paar wissenswerte Dinge erzählen sollte, wie die Namen der wichtigsten Städte und Flüsse. Diese Namen ließen die Kinder sich dann auf der Zunge zergehen wie Süßigkeiten und prägten sie sich für alle Zeiten ein. Den Rest der Woche erzählte sie dann täglich eine Stunde lang etwas über das jeweilige Land und zeigte den Kindern Fotos und Zeichnungen von Bauwerken und Sehenswürdigkeiten. Minutenlang bewunderten sie dann den Dom in Köln und Notre Dame in Paris.
    Natürlich nährte sie auf diese Weise ihre Sehnsucht, etwas von der Welt zu sehen, aber sie hatte sich ohnehin vorgenommen, sie eines Tages mit nach draußen zu nehmen. Die Hecke, die das Haus umgab, würden sie dann ebenso hinter sich lassen wie das ganze Dorf, auch wenn der Vater das den Kleinen noch immer nicht erlaubt hatte. Aber sie hatte Hoffnung. Der Doktor fragte schließlich regelmäßig danach, welche Fortschritte seine Söhne machten. Mit verhaltenem Stolz erzählte sie dann unter anderem, welche neuen Worte die Kinder kürzlich gelernt hatten, woraufhin sie sie ein Stück aus einem der Lehrbücher vorlesen ließ, die sie immer samstags aus der Bibliothek von Hergenrath holte. Der Doktor zeigte sich zufrieden – auf seine Weise, also ohne viel Enthusiasmus, aber die Tatsache, dass er sich auf ihren Rat hin nun auch selbst täglich eine halbe Stunde mit den Kindern beschäftigte und ihnen beim Lesen half, zeigte ihr, dass er hinter ihr stand.
    Auf die Neuigkeit, dass seine Kinder zum ersten Mal Additionsrechnungen gemacht hatten, reagierte er indes anders, als sie erwartet hatte.
    »Das will ich sehen«, hatte er gesagt.
    Die Kleinen hatten aus dem Klassenzimmer den Rechenschieber geholt, mit dem sie Rechnen gelernt hatten, und er hatte ihnen einige einfache Aufgaben gestellt. Als ginge es um einen Taschenspielertrick, hatten Michael, Gabriel und Raphael die Ringe hin und her geschoben und schließlich immer in kürzester Zeit die richtige Antwort

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