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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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farbigen Armbänder trugen.
    »Seid ihr schon oben?«, war plötzlich die Stimme von Charlotte Maenhout zu vernehmen.
    Die Kinder reagierten nicht.
    »Ja, sie sind hier«, rief Florent.
    »Das dachte ich mir schon«, antwortete sie, während er sie die Treppe heraufkommen hörte.
    Kurz darauf erschien ihre hoch gewachsene Gestalt in der Türöffnung. Unter dem einen Arm hatte sie einen Karton und unter dem anderen eine lange Rolle.
    »Hallo, Florent«, sagte sie, »gut, dass du noch da bist. Hilfst du mir kurz, diese Karte aufzuhängen?« Sie deutete mit dem Kopf auf die Rolle unter ihrem rechten Arm.
    Der Handwerker nickte und ging mit raschen Schritten auf sie zu. Er nahm ihr die Rolle ab, zeigte mit dem Daumen auf die drei Kinder an der Tafel und flüsterte: »Sie können schon lesen und schreiben.«
    »Und rechnen auch schon«, entgegnete sie ungerührt. »Also pass gut auf, wenn du deine Rechnung schreibst.«
    Er sah sie verdutzt an.
    »War nur ein Witz«, sagte sie und gab ihm einen spielerischen Klaps auf die Schulter.
    »Was ist das?«, rief einer der Jungen. Er hatte sich umgedreht und zeigte mit dem Kreidestück auf die Rolle. Seine Augen quollen so sehr hervor, dass sie aussahen wie blaue Murmeln, die ihm jeden Moment aus dem Gesicht herausfallen konnten. Der Handwerker wandte den Blick ab, um nicht mit offenem Mund dazustehen und zu gaffen.
    »Das ist eine Karte von Europa«, sagte Frau Maenhout.
    »Eine Karte von Europa?«, fragte Florent.
    »Es war die einzige, die sie in der Schule entbehren konnten«, vertraute sie ihm an, woraufhin sie sich wieder an die Kinder richtete, »und das trifft sich gut, denn ihr wollt doch Weltenbummler werden, oder?«
    »Ja, und dann fahren wir ganz weit weg«, sagte Gabriel.
    »Na, dann werd ich die Karte mal schnell aufhängen, umso schneller könnt ihr los«, sagte der Handwerker, während er die Wände nach einer geeigneten Stelle absuchte. »Wo möchten Sie sie denn haben, Frau Maenhout? Neben dem Fenster?«
    »Ja, das ist in Ordnung«, sagte sie.
    »Geben Sie den Kindern dann Unterricht?«
    »Ja, Doktor Hoppe möchte das so. Im Kindergarten würden sie nur ihre Zeit vertun, sagt er.«
    »Da hat er Recht. Wenn sie jetzt schon so gescheit sind, dann vergessen sie dort eher Dinge, als dass sie etwas Neues lernen. Hier?« Er zeigte mit der Bohrmaschine auf eine Stelle an der Wand. Frau Maenhout nickte.
    Aus dem Augenwinkel sah er zu den Söhnen des Doktors hinüber, die beim Geräusch der Bohrmaschine nicht mal zusammenzuckten. Er war etwas zwiegespalten: Einerseits fand er es furchtbar, wie die Kinder aussahen, andererseits war er froh, sie überhaupt gesehen zu haben. Im »Terminus« würden die Stammgäste nachher an seinen Lippen hängen. Er wollte aber gern noch mehr zu erzählen haben, also griff er die Gelegenheit beim Schopfe.
    »Frau Maenhout«, sagte er in gedämpftem Tonfall, »stimmt vielleicht irgendetwas nicht mit den Kindern? Ich meine, mit ihrer Gesundheit? Sie sehen so … so anders aus.«
    Frau Maenhout holte tief Atem und nickte beherrscht.
    »Der Doktor sagt, es ist was mit ihren Chromosomen.«
    »Chromosomen?«
    »Ich verstehe es auch nicht so ganz. Es hat was mit Vererbung zu tun. Die Chromosomen sind in jeder einzelnen Körperzelle eines Menschen enthalten, 23 Paar, um genau zu sein, und immer wenn eine Zelle sich teilt, dann teilen sich die Chromosomen auch und geben so die Informationen weiter an die neue Zelle.«
    »Ich kann Ihnen jetzt schon nicht mehr folgen, Frau Maenhout. Für mich ist das alles Latein.« Er verfiel wieder in den Flüsterton: »Aber kann der Herr Doktor denn nichts dagegen tun?«
    »Er ist noch dabei, sagt er. Es wird schon alles.«
    »Dann bin ich ja beruhigt«, sagte er wahrheitsgemäß.
    Er hängte die Karte an den Haken und wollte gerade noch eine Frage stellen, als Frau Maenhout den Kindern zurief: »Schaut mal, die Karte von Europa!«
    Alle drei sahen auf und ließen die Blicke über die Karte wandern, auf der jedes Land in einer anderen Farbe abgebildet war und die großen Städte mit kleinen roten Punkten markiert.
    »Hier wohnen wir«, sagte sie und tippte mit dem Finger auf die Stelle, wo Deutschland, Belgien und die Niederlande aneinandergrenzten.
    »Im Dreiländereck!«, rief Florent enthusiastisch, als hätte er gerade die Antwort auf eine schwierige Frage gefunden.
    Er sah auf die Uhr. Bald würde das »Terminus« aufmachen.
    »Ich muss los, Frau Maenhout. Ich muss noch bei Martha im Laden vorbeischauen, bevor

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