Der Engelmacher
sein Alter. Er hatte eine Scheibe Brot gegessen und dabei auf etwas Hartes gebissen. Wie sich herausstellte, war es ein Milchzahn, der ausgefallen war. Sie gab ihm ein Glas, um ihn aufzubewahren, und kurz darauf zeigte er seine Reliquie stolz seinem Vater. Der setzte sich und starrte minutenlang vor sich hin.
Das war der Wendepunkt gewesen. Bis dahin hatte der Zustand der Drillinge halbwegs stabil ausgesehen. Und der Doktor hatte sich auf die Lernerfolge seiner Söhne konzentriert. Endlich hatte er die Zeit gefunden. Er schien endlich alles unter Kontrolle zu haben.
Bis Raphael einen Zahn verloren hatte. Von diesem Augenblick an war es mit der Gesundheit der Drillinge rapide bergab gegangen. Ihre Haut hatte angefangen, sich in Schuppen abzulösen, und auf den Handrücken waren braune Flecken entstanden. Sie husteten viel und hatten ständig Durchfall. Und sie waren noch öfter müde als sonst. Lediglich ihre Intelligenz schien von dem Verfall ausgenommen zu sein. Aber wie lange würde das so bleiben?
Wenn einem seiner Söhne etwas zustoßen sollte, will er denselben Schmerz nicht noch einmal empfinden.
Hannahs Worte spukten ihr immer noch durch den Kopf. Hatte der Doktor darum kein Interesse mehr für ihre Fortschritte beim Lernen? Weil es doch keinen Sinn mehr hatte?
Wochenlang quälte sie sich mit den schlimmsten Gedanken. Schließlich fand sie den Mut, sie auszusprechen. Sie hatte sich vorgenommen, mit der Tür ins Haus zu fallen. Das war die einzige Art und Weise, den Doktor zum Sprechen zu bewegen.
»Wie alt werden sie?«
Sie hatte Michael, Gabriel und Raphael in der Klasse eine Aufgabe gestellt, mit der sie einige Minuten beschäftigt sein würden, und war nach unten gegangen. Die Sprechstunde war vorbei, und die Tür zum Sprechzimmer stand einen Spalt offen. Der Doktor saß über einen Stapel Papiere gebeugt an seinem Schreibtisch, und nach kurzem Zögern hatte sie angeklopft. Jetzt gab es keinen Weg mehr zurück. Er hatte ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch angeboten, aber sie war stehen geblieben.
Ihre Frage ließ ihn verwundert aufblicken. »Wer? Die Kinder?«
Sie nickte.
»In ein paar Wochen vier Jahre. Das wissen Sie doch.«
»Das meine ich nicht.«
»Was denn dann?«
In seiner Stimme schwang keinerlei Argwohn mit, weshalb sie kurz wieder zweifelte. Er hätte doch sofort begreifen müssen, was sie sagen wollte.
»Wie lange haben sie noch zu leben?«, fragte sie dann.
An seinem Blick und der Art, wie er die Sitzhaltung änderte, sah sie sofort, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Trotzdem versuchte er noch, den Schein aufrecht zu erhalten. »Wie lange sie noch zu leben haben?«
Jetzt musste sie durchhalten, sonst würde er sie wieder mit einer vagen Auskunft abspeisen. Sie hatte keine Beweise, lediglich so ein Gefühl, aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen.
»Sie werden schnell alt«, sagte sie.
Er antwortete nicht.
»Viel zu schnell«, fuhr sie fort. »Das ist abnormal. Fast so, als ob …«, kurz suchte sie nach den richtigen Worten, »… als ob sie mit jedem Monat ein ganzes Jahr älter würden.«
»Das habe ich Ihnen doch erklärt.«
»Ich will keine Erklärungen!«, rief sie plötzlich aus. »Die nützen mir gar nichts! Ich will auch nicht mehr hören, dass alles gut wird. Denn es wird nicht gut! Im Gegenteil, es geht Tag für Tag weiter abwärts. Das sehen Sie doch auch!«
Sie erschrak selbst über die Heftigkeit ihrer Reaktion. Aber sie schien ihn beeindruckt zu haben. Er lehnte sich zurück und strich sich über den Bart, während er tief Luft holte und die Luft durch seine breite Nase entweichen ließ. Seine Hand wanderte über das Kinn zur Kehle und blieb schließlich auf seiner Brust liegen.
»Wie viel Zeit bleibt ihnen noch?«, fragte sie erneut.
Sie hatte die Stimme gesenkt, weil ihr klar geworden war, dass die Kinder sie womöglich hören konnten.
Der Doktor beugte sich vor und legte seine gefalteten Hände vor sich auf den Schreibtisch.
»Nach dem jetzigen Stand der Dinge, der eigentlich wenig Bedeutung hat, denn es kann …«
»Wie lange?«
»Ein Jahr, vielleicht zwei.«
»Ein, zwei Jahre?«
Er nickte nur.
»Sie werden also höchstens sechs«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Doktor. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken. Ein Wechselbad von Gefühlen überfiel sie. Einerseits war sie erleichtert, weil sie nun endlich die Wahrheit kannte, andererseits schnürte diese Wahrheit ihr die Kehle zu. Aber da sie ihn nun schon am Reden hatte, musste
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