Der Engelmacher
Mühe damit, das Vaterunser auswendig zu lernen. Auf Französisch und auf Deutsch. Ein Kreuzzeichen auszuführen, fiel ihnen hingegen schwer. Sie konnten sich die Reihenfolge der Bewegungen nicht merken und wussten nie, ob sie nun links oder rechts anfangen sollten.
Sie hatte ihnen gesagt, sie sollten sich jeden Abend vor dem Schlafengehen bekreuzigen und das Vaterunser beten. Das hatten sie spannend gefunden.
»Und Vater darf nichts davon wissen?«
Nein, das dürfe er nicht, hatte sie gesagt, obwohl es eigentlich nicht mehr darauf ankam. Aber sie wollte die Kleinen nicht durcheinander bringen und sie auch nicht in den Konflikt hineinziehen, den sie mit dem Doktor hatte.
Und weil es nun einmal sein musste, sprach sie mit den Kleinen auch über den Tod, so schwer es ihr auch fiel.
»Kinder, die sterben«, erklärte sie, »verändern sich in Engel und fliegen direkt in den Himmel.« Und mit bleischwerem Arm zeichnete sie einen Engel an die Tafel.
»Wo ist der Himmel? Welchen Weg müssen wir dann entlang?«, fragte Michael.
Dass die Jungen auch noch die Namen von Engeln trugen, fand sie beinahe sarkastisch. Als hätte der Doktor sie extra so genannt.
»Der Himmel ist da oben.« Sie deutete ins Blaue hinein.
»Einfach gerade nach oben fliegen, dann kommt ihr von selbst dort an.«
Dann erzählte sie, der Himmel sei wie ein grenzenloses Land, durch das sich ein unendlicher Fluss winde. Auf diesem fahre ein enormes Segelschiff mit Gott am Steuer, und alle, die im Himmel ankämen, dürften für immer in diesem Boot Platz nehmen.
»Oh, und dürfen wir dann auch mal am Steuer stehen?«, wollte Gabriel wissen.
»Das denke ich schon.«
»Ach, wären wir doch nur schon tot«, seufzte er, aber lange konnte sie zum Glück nicht über diesen Satz nachdenken, denn Raphael stellte schon wieder die nächste Frage: »Und die Erwachsenen? Kommen die auch in den Himmel?«
»Nur wer sein ganzes Leben lang immer Gutes getan hat.«
»Dann kommen Sie bestimmt auch in den Himmel«, meinte Raphael.
»Und Vater nicht«, fügte Gabriel ohne Zögern hinzu.
So entlockten sie ihr doch noch ein Lächeln.
Kurz war sie neidisch darauf, dass kleine Kinder bis zu einem gewissen Alter bei anderen Menschen gut und böse so klar unterscheiden konnten. Sie wünschte, sie wäre selbst nie über dieses Stadium hinausgewachsen. Dann hätte sie den Doktor schon viel früher der bösen Seite zugeordnet. Stattdessen hatte sie ständig Rücksicht auf seinen Kummer oder seine Verzweiflung genommen, obwohl sie davon im Grunde bei ihm nie etwas bemerkt hatte.
Je näher das Ende der Woche rückte, desto schwerer fiel es ihr, in Gegenwart der Kinder ihre Gefühle nicht zu zeigen. Inzwischen hatte sie sich dafür entschieden, die Polizei einzuschalten. Einen Pfleger oder einen anderen Arzt würde Doktor Hoppe sicher sofort wieder wegschicken, bevor er die Kinder auch nur zu Gesicht bekommen hätte, und gerade darum ging es ja: Eine neutrale Person von außen würde auf den ersten Blick erkennen, dass sie dringend der Hilfe von Spezialisten bedurften.
Aber dann kam etwas dazwischen, womit sie nicht gerechnet hatte. Sie hatte den Doktor all die Tage über kaum gesehen. Sie hatte den Eindruck, dass er ihr seit dem letzten Gespräch aus dem Weg ging. Wenn sie morgens ankam, saß er bereits im Sprechzimmer oder im Labor, und wenn sie abends wegging, saß er dort immer noch. Am Freitagmorgen stand er dann aber plötzlich vor ihr.
»Ich verreise«, sagte er. »Eine Messe in Frankfurt. Ich fahre morgen früh ab. Um halb sechs kommt mein Taxi.«
Das war alles. Er hatte sie nicht einmal gebeten, während seiner Abwesenheit auf die Kinder aufzupassen. Trotzdem war sie natürlich davon ausgegangen, dass er es so gemeint hatte.
Sie tat es den Kindern zuliebe. Das hatte Frau Maenhout sich die ganze Zeit über vor Augen gehalten. Die Kleinen träumten nun schon so lange davon, ein bisschen was von der Welt zu sehen, und jetzt, da sich die Gelegenheit bot, weil ihr Vater eine Zeit lang fort war, würde sie dafür sorgen, dass ihr Traum Wirklichkeit wurde, und sie zum Dreiländereck mitnehmen. Es war das Letzte, was sie für die Kinder tun konnte. Wenn alles gutging, brauchte niemand davon zu erfahren, und sie konnte danach den Plan in die Tat umsetzen, den sie schon zu Beginn der Woche gefasst hatte. Dann hatten Michael, Gabriel und Raphael zumindest etwas, woran sie in der Zeit, die ihnen noch blieb, zurückdenken konnten. Wenn die Geburtstagsfeier nicht so aus
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