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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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kein Wunder, dass niemand die Verantwortung für das Telefonat auf sich nehmen wollte, denn während Frau Maenhout unten war, vollzog sich im ersten Stock ein Drama, an dem Michel und Marcel zufolge einzig und allein die Söhne des Doktors selbst schuld waren.
    »Marcel hat durch das Fenster die Nüsse gesehen«, erzählte Michel später seiner Mutter. »Der ganze Baum hing voll. Es waren Tausende!«
    Der alte Walnussbaum, der nah an der Hauswand stand, trug dieses Jahr tatsächlich eine besonders reiche Ernte. Seine Zweige ächzten unter dem Gewicht der Nüsse, die in ihren Fruchthüllen teilweise fast die Größe von Äpfeln hatten. Der Baum war schon Jahre nicht mehr gestutzt worden, und die höchsten Zweige reichten über das Dach hinaus. In den Tagen vor der Geburtstagsfeier waren die ersten Nüsse bereits auf das Schieferdach heruntergefallen, was im Wartezimmer jedes Mal wie ein Gewehrschuss geklungen hatte.
    »Wir standen am Fenster, und die kamen dazu«, erzählte Michel, »und einer …«
    »Gabriel, es war Gabriel!«, ergänzte Marcel.
    »Gabriel wollte eine Nuss für uns pflücken.«
    »Wir haben noch gesagt, dass er das nicht machen soll …«
    »… aber dann hat der andere einen Stuhl geholt und den vors Fenster gestellt.«
    »Und Gabriel hat sich draufgestellt und das Fenster aufgemacht.«
    »Er hat sich so nach vorn gebeugt, und …«
    »… und da ist der Stuhl unter ihm weggerutscht, und er …«
    Der Doktor war zu dem Zeitpunkt im Labor und hatte kurz vor dem Sturz eine der Goldpapierkronen am Fenster vorbeitrudeln sehen, erzählte er später seinen Patienten. Dann war ein enorm lautes Knacken von Zweigen zu hören gewesen, blitzschnell war ein Körper am Fenster vorbeigerast, und schließlich kam ein dumpfer Aufprall. Der Doktor war nach draußen gestürmt, gefolgt von Frau Maenhout, die ebenfalls höchst alarmiert ausgesehen hatte.
    Fast zur gleichen Zeit war auch die Tür von Irma Nussbaum aufgeflogen, was die Vermutung bestärkte, dass sie diejenige war, die angerufen und aus Frau Maenhouts Reaktion geschlossen hatte, was geschehen war.
    »Das Knacken der Zweige war bis in meine Wohnung zu hören«, verteidigte Irma sich, was ihr indes niemand glaubte.
    Jedenfalls konnte sie wahrheitsgemäß bezeugen, dass die zwei anderen Kinder des Doktors erschrocken aus dem Fenster im ersten Stock geblickt hatten.
    »Rein mit euch«, hatte ihr Vater gebrüllt, »hinein, hab ich gesagt!«
    Irma hatte auch die Stimme Frau Maenhouts gehört. Erst hatte sie aufgeschrien, dann gesagt: »Ich rufe einen Krankenwagen!«
    »Nein, kein Krankenwagen!«, hatte Doktor Hoppe klar und deutlich zurückgerufen, und er hatte es zweimal wiederholen müssen, weil sie weiter darauf gedrängt hatte. Dass sie so wenig Vertrauen in die Qualitäten des Doktors hatte, fand Irma eine Schande. Der Doktor hatte den Jungen dann offenbar hochgehoben und ins Haus getragen, denn sie hatte ihn sagen hören: »Frau Maenhout, halten Sie die Tür auf!«
    Im selben Augenblick waren Michel und Marcel oben am Fenster erschienen.
    »Er wollte eine Nuss pflücken, Herr Doktor! Eine Nuss wollte er pflücken!«, hatten sie beide gleichzeitig gerufen. Der Doktor hatte sie keines Blickes gewürdigt, und mit einem Knall war die Tür hinter ihm zugefallen. Kurz darauf hatte Frau Maenhout sämtliche Eltern angerufen und sie gebeten, ihre Kinder abzuholen.
    Noch am selben Tag kamen viele Dorfbewohner an dem Haus in der Napoleonstraße 1 vorbei, und alle sahen sie den dicken Zweig, der halb abgebrochen war und nun wie ein lahmer Arm neben dem Stamm herunterhing.
    »Ich habe schon immer gesagt, dass der Baum dort eine Gefahr darstellt«, hatte Irma mehrmals kundgetan.
    Am nächsten Vormittag war aus dem Garten des Doktorhauses ein Motorengeräusch zu hören gewesen, eine Viertelstunde, nachdem Florent Keuning am Tor geklingelt hatte.
    »Er hat mich darum gebeten«, entschuldigte dieser sich später. »Da konnte ich doch schlecht nein sagen.«
    Von weitem war zu sehen gewesen, wie die Blätter des Nussbaums gezittert hatten, und je länger das Motorengeräusch angehalten hatte, desto mehr Nüsse waren auf das Schieferdach des Doktorhauses gefallen und in die Dachrinne gerollt.
    »Einen Nussbaum zu fällen, bringt Unheil! Unheil!«, hatte Josef Zimmermann am Fenster des »Terminus« gerufen, als die breite Krone, die das Dach des Doktorhauses überragt hatte, aus dem Blickfeld verschwunden war.
    Die Erschütterung, die der Baum verursachte, als er auf den

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