Der Engelmacher
ihre kahlen Schädel und die Missbildungen im Gesicht nun unter den Kostümen verborgen waren, sahen sie ausnahmsweise einmal aus wie drei ganz normale Kinder. Es hatte fast den Anschein, als hätten sie gerade erst eine Verkleidung ab-, nicht angelegt, denn ihr echtes Äußeres stand ihnen seltsamer zu Gesicht als ihre jetzige Vermummung.
Beim Frühstück hatte sie ihnen dann noch zweierlei beigebracht. Sie hatte ihnen gesagt, sie sollten einen Kreis bilden und die Schwerter über den Köpfen kreuzen. »Einer für alle, alle für einen«, hatte sie gerufen, »das ist der Schlachtruf der Musketiere. Er bedeutet, dass ihr immer füreinander da sein werdet, was auch geschehen mag.«
Die Stimmen hatten sich in der Küche fast überschlagen: »Einer für alle, alle für einen! Einer für alle, alle für einen!«
Zum Schluss hatte sie ihnen noch eine Ermahnung mit auf den Weg gegeben: »Und merkt euch: Musketiere hören nur auf Gott und auf den König. Ihr braucht also vor nichts und niemandem Angst zu haben.«
»Gott und der König«, hatten die Jungen wiederholt, »nur Gott und der König.«
Dann waren sie aufgebrochen, um das Dreiländereck zu erobern. Es war Samstag, der 29. Oktober 1988. Morgens um zehn vor sechs.
»Wenn der große Zeiger auf der Zwei steht, dann sind wir da.«
Frau Maenhout deutete auf den gelb leuchtenden Zeiger der Turmuhr. Kurz zuvor hatten sie die Napoleonstraße überquert, und im Schatten der Häuserfront liefen sie nun zur Route des Trois Bornes. Zwanzig Minuten Hinweg, fünfzehn Minuten beim Dreiländereck und zwanzig Minuten zurück. So hatte sie es eingeschätzt. Dann wären sie etwa um Viertel vor sieben zurück, kurz bevor die Sonne aufging.
Die drei Kinder liefen rechts neben ihr. Sie hielten alle drei ihre Schwerter im Anschlag und sahen sich ständig um, als fürchteten sie irgendeinen Hinterhalt. Nebelschlieren schwebten über dem Fußweg und schienen vor den Schwertern der Kinder wie streunende Hunde zu flüchten.
Vor der Brücke, hinter der die Route des Trois Bornes anfing, machten sie Halt.
»Jetzt noch unter der Brücke durch«, erklärte Frau Maenhout, »und dann fängt der Aufstieg zum Gipfel des Vaalserbergs an. Da liegt das Dreiländereck. Seid ihr bereit?«
Die Kinder nickten. Athos rückte seine Maske zurecht, Aramis umklammerte sein Schwert noch fester als zuvor, und Porthos griff nach seinem Hut. Frau Maenhout rang sich ein Lächeln ab, aber das bange Gefühl, das sie schon den ganzen Morgen hatte, vertrieb sie damit nicht.
»Gut so«, sagte sie leise. »Und nicht vergessen: Einer für alle …« Sie legte einen Finger auf den Mund.
»Alle für einen«, erklang halblaut die Antwort.
Der Aufstieg war länger und beschwerlicher, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Anfangs war es nur eine leichte Steigung, aber nach der ersten scharfen Kurve ging es bereits steiler bergauf. Sie merkte es auch an dem Tempo der Jungs, die sie keinen Augenblick aus den Augen ließ. Die ersten hundert Meter hatten sie in typisch kindlichem Übermut fast schon zu schnell für ihre kurzen Beine zurückgelegt, aber danach waren sie immer langsamer geworden. Nach etwa zehn Minuten kamen sie kaum noch voran. Sie hatte sich vorher schon gefragt, ob die Kinder die Wanderung körperlich überhaupt bewältigen konnten, aber sich vorgenommen, die drei notfalls zu tragen. Am Anfang hatte sie auch überlegt, ob sie Hannah Kuijk bitten sollte, sie alle zusammen mit dem Auto zu fahren, aber dann war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie diese Sache lieber auf die eigene Kappe nahm. Nur sie und die drei Kleinen. Sonst niemand.
In Wolfheim schlug die Uhr gerade sechs. Der Klang der Glocken stieg aus dem Tal herauf, und Frau Maenhout zählte die Schläge mit. Beim letzten holte sie tief Luft und sagte: »Den Rest des Weges legen die Musketiere zu Pferd ab.«
Dann nahm sie die Kinder auf den Arm, Michael und Raphael auf den einen und Gabriel auf den anderen. Sie setzten sich sogleich aufrecht hin, reckten stolz die Nasen in die Luft und hielten die Schwerter entschlossen umklammert. Sie selbst hob ebenfalls das Kinn und dachte: Also los.
Es war ermüdend. Einzeln wogen die Kinder fast nichts, noch keine dreizehn Kilo, aber zusammen waren sie doch schwer. Sie spürte schon bald, wie ihr der Schweiß ausbrach und die Arme erlahmten. Dennoch dachte sie keinen Augenblick daran, stehen zu bleiben. Sie brauchte nur einen der Jungen kurz anzublicken und durch die Löcher in der Maske die blauen
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