Der Engelmacher
dem Ruder gelaufen wäre, hätte sie den Doktor sowieso gefragt, ob sie mit den Kindern nicht einmal diese kleine Reise unternehmen konnte.
Seit ihrer Pensionierung war sie selber nicht mehr beim Dreiländereck gewesen. Davor hatte sie einmal jährlich mit ihrer Klasse einen Ausflug auf den Gipfel des Vaalserbergs gemacht, und ganz früher, in ihrer Kindheit, war sie auch oft hingefahren. Damals war es dort noch sehr ruhig gewesen – es hatte noch nicht einmal einen Aussichtsturm gegeben. Aber mit der Zeit hatte das Dreiländereck immer mehr Touristen angelockt, was auch in den Straßen Wolfheims spürbar war. Die Autos und Busse fuhren von morgens bis abends durch das Dorf und mussten am Ende der Napoleonstraße unter einer kleinen Brücke hindurch, wodurch mitunter ein Stau entstand, der bis zum Haus des Doktors reichte. Hinter der Brücke fing die Route des Trois Bornes an, die steil bis auf den Gipfel des Vaalserbergs hinaufführte, zum höchsten Punkt der Niederlande. Auf einer kleinen kopfsteingepflasterten Ebene stand dort ein Stein mit der Inschrift »322,5 meter boven AP«, 322,5 Meter über dem Meeresspiegel. Direkt hinter dem Stein standen drei alte Grenzpfähle in einer Reihe, weshalb manche Touristen irrtümlich meinten, diese bildeten selbst das Dreiländereck. Tatsächlich befand sich aber die Stelle, an der Belgien, die Niederlande und Deutschland aneinander grenzten, etwa zehn Meter weiter südlich, wo ein kleiner Betonpfahl in Form eines Obelisken stand. An den seitlich angebrachten Buchstaben B, D und NL konnten die Touristen, die um den Pfahl herumgingen – eine Versuchung, der niemand widerstand – jederzeit ablesen, in welchem Land sie sich gerade befanden.
Auch der Baudouin-Turm war eine Attraktion. Er stand nahe dem Dreiländereck auf belgischem Territorium und war vierunddreißig Meter hoch. Eine Metalltreppe führte zu der Plattform auf seiner Spitze, von wo aus man die gesamte Umgebung überblicken konnte. Der Aufstieg war Jahr für Jahr der Höhepunkt des Ausflugs mit ihrer Schulklasse gewesen. Mit den Drillingen würde sie am nächsten Morgen leider nicht hinaufkönnen, so früh war der Turm noch geschlossen. Schade, denn von seiner Spitze aus hätten sie endlich eine plastischere Vorstellung von Europa bekommen, als sie die Landkarte vermitteln konnte.
Den ganzen Freitagabend und bis in die Nacht hinein hatte sie vor der Abreise des Doktors noch an einer Verkleidung gearbeitet. Schließlich musste sie verhindern, dass die Jungs sofort erkannt würden, falls sie jemandem begegneten. Außerdem musste sie ihnen die Angst nehmen und ihnen ein bisschen Selbstvertrauen geben. Sie hatte bereits bemerkt, dass die drei stets mehr Mut fassten, wenn sie verkleidet waren. Sie ließen dann ihrer Phantasie freien Lauf, bis diese zu ihrer einzigen Wirklichkeit wurde, spielten keine Rollen mehr, sondern schlüpften ganz in die Haut der jeweiligen Figur. Offenbar war das für sie die einzige Möglichkeit, dem strengen Korsett des von ihrem Vater bestimmten Alltags zu entfliehen.
Als sie schließlich im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Sie dachte über die vergangenen drei Jahre nach. Beinahe täglich hatte sie eine Stunde bei den Kindern verbracht, auch wenn es ihr jetzt vorkam, als hätte sich alles im Laufe weniger Tage abgespielt. Das kommt durch die Routine, dachte sie. Viele Tage waren einander sehr ähnlich gewesen. Die fünfundvierzig Jahre, die sie an der Schule unterrichtet hatte, waren in ihrer Erinnerung schließlich auch irgendwann auf ein paar Monate zusammengeschrumpft. Und wie sie nach ihrer Pensionierung die Routine des Unterrichtens vermisst hatte, so würde sie nun auch die Routine im Haus des Doktors vermissen. Und natürlich die drei Kleinen.
Sie hatte die drei lieb gewonnen, das wusste sie sicher, aber irgendwie hatte sie keines der drei Kinder ganz ergründen können. Sie hatten über die Jahre hinweg wenig individuellen Charakter entwickelt, in keinerlei Hinsicht. Weder Michael noch Gabriel noch Raphael hatten sich auf irgendeine Weise von den anderen abgehoben, nicht durch besonderen Übermut und auch nicht durch besondere Verlegenheit oder Fröhlichkeit. Hannah hatte einmal gesagt, ihre Gehirne seien durch unsichtbare Drähte miteinander verbunden, und das schien auch mit ihren Charakteren der Fall zu sein. Alle drei waren gleichermaßen in sich gekehrt – zwar auch neugierig darauf, was um sie herum geschah, aber letzten Endes von ihrer ganzen Art her doch eher
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