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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Boden prallte, war bis ins Wirtshaus spürbar gewesen.
     
    Natürlich war es ihre Idee gewesen. Zu Recht war sie deshalb zunächst noch stolz auf sich selbst gewesen. Es hatte sie einiges an Überredungskünsten gekostet, aber schließlich hatte der Doktor einer kleinen Feier zugestimmt. Für die Gesundheit der Kinder kann es nur gut sein, hatte sie sogar noch argumentiert. Der Unfall und die Tatsache, dass er überhaupt passieren konnte, hatten sie dann sehr mitgenommen. Aber dabei war es nicht geblieben. Es waren noch viele Dinge hinzugekommen, die sie immer wieder aufs Neue schockiert hatten. So hatte sie im Nachhinein erfahren, dass Michel und Marcel Moresnet gelogen hatten, um ihren eigenen Teil der Schuld an dem Drama zu vertuschen. Nachdem die anderen Kinder wieder weg waren, hatten nämlich Michael und Raphael erzählt, dass Marcel sich an Gabriel herangeschlichen und ihm die Krone vom Kopf gerissen hatte.
    »Guck mal, der hat keine Haare!«, hatte Boris Croiset gerufen.
    Michael, Gabriel und Raphael hatten noch versucht, die Krone wiederzubekommen, aber die anderen Kinder hatten zusammengehalten und das begehrte Objekt schnell reihum weitergegeben.
    Sie hatte das Gerümpel in dem Moment sogar gehört, aber es war ihr nicht gelungen, Irma Nussbaum am Telefon abzuwimmeln.
    Kaum hatte Michel Moresnet die Krone in die Finger bekommen, hatte er sie auch schon schwungvoll aus dem Fenster hinausbefördert, das sein Bruder aufgehalten hatte. Die Krone war im Nussbaum gelandet, und erst hatte Gabriel sich noch auf einen Stuhl gestellt und versucht, mit ausgestrecktem Arm an das Ding heranzukommen, aber dann war es Stück für Stück zwischen den Zweigen nach unten gesackt und schließlich ganz hinuntergesegelt. Im nächsten Augenblick war der Stuhl, auf dem Gabriel stand, weggerutscht, und er hatte das Gleichgewicht verloren.
    Ursprünglich wollte Frau Maenhout all dies dem Doktor erzählen, ließ es aber schließlich bleiben, weil es sowieso nichts mehr geändert hätte. Passiert war passiert. Aber wenn sie es doch getan hätte, hätte Doktor Hoppe vielleicht den Nussbaum stehen lassen. Das war der nächste Schock gewesen. Als sie an jenem Vormittag beim Doktorhaus ankam, war der Baum bereits gefällt. Florent Keuning war gerade damit beschäftigt, die Zweige abzusägen.
    Da hatte sie es dem Doktor doch noch erzählt. Dass der Baum nichts damit zu tun hatte. Dass Gabriel in Wirklichkeit gar nicht darauf aus gewesen war, Nüsse von den Zweigen zu pflücken. Der Doktor sollte sich schuldig fühlen, vielleicht damit ihr eigenes Schuldgefühl etwas erträglicher wurde.
    »Der Baum stand doch nur seit Jahren im Weg«, hatte er schulterzuckend geantwortet.
    Kurz hatte es ausgesehen, als wäre damit alles gesagt, aber dann hatte er ihr Vorwürfe gemacht, die ihre Schuldgefühle nur noch vergrößert hatten. Was ihr eingefallen sei, die Kinder allein zu lassen? Ob ihr klar sei, dass Gabriel hätte tot sein können? Ob ihr bewusst sei, dass ihm von seinem Sturz eine Narbe zurückbleiben werde, durch die er sich für immer von seinen Brüdern unterscheiden werde?
    Das alles hatte er in einem ausdruckslosen Tonfall gesagt, wie eine Art Aufzählung, wodurch die Fakten sie umso härter trafen. Sie hatte keine passenden Widerworte gefunden und war heulend davongelaufen. Erst später war ihr eingefallen, was sie hätte sagen sollen. Dass er selbst auch Schuld daran hatte. Dass er ans Telefon hätte gehen sollen. Dass er den Apparat nicht absichtlich hätte läuten lassen dürfen, um sie aus dem Klassenzimmer wegzulocken, in der Hoffnung, dass irgendetwas passieren würde. Etwas, das er ihr dann vorwerfen konnte.
    Der zweite Schock kam, als sie Gabriel eine Woche nach dem Unfall wiedersah. Sie hatte nur von ein paar Schrammen gewusst, einer leichten Gehirnerschütterung und einer Kopfwunde, die nun mit einem viereckigen Druckverband bedeckt war. Sieben Stiche waren nötig gewesen, um die Wunde zu nähen, und solange kein Haar auf seinem Kopf wuchs, würde die Narbe sichtbar bleiben. Aber es stellte sich heraus, dass er auch auf dem Rücken einen Verband hatte, von der Größe einer Postkarte. Darüber hatte der Doktor nichts gesagt. Seit er unlängst ausfällig gegen sie geworden war, hatten sie übrigens kein Wort mehr miteinander gesprochen, und darum wagte sie nicht gleich, danach zu fragen. Gabriel selbst hatte keinerlei Erinnerung daran, was in der Zeit zwischen seinem Sturz aus dem Fenster und seinem Erwachen in dem

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