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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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verdunkelten Labor neben dem Sprechzimmer vorgefallen war.
    Schließlich hatte sie das Klebeband, mit dem der Verband auf seinem Rücken befestigt war, vorsichtig abgepult. Darunter befand sich ein Schnitt von gut zehn Zentimetern Länge, der genäht war. Sie hatte den Pullover herausgesucht, den Gabriel an jenem Tag angehabt hatte, und nachgesehen, ob Blutflecken auf der Rückseite zu sehen waren. Das war nicht der Fall. Lediglich an den Schultern und vorne waren ein paar Flecken bei der Wäsche nicht richtig herausgegangen.
    Es ließ sie nicht los, und um keinen Wahnvorstellungen zu verfallen, sprach sie den Doktor schließlich darauf an, an dem Tag, als er bei Gabriel die Fäden zog.
    »Ich wusste gar nicht, dass er auch auf dem Rücken eine Wunde hatte«, sagte sie.
    Der Doktor nickte. Er war nicht überrascht, reagierte aber auch keinesfalls abweisend.
    »Ich habe ein Stück von der Niere weggenommen.«
    »War die denn verletzt?«
    »Nein. Wie kommen Sie darauf?«
    Seine Antwort machte ihr zu schaffen. Er tat nicht nur so, als wäre alles in Ordnung, sondern fand das, was er getan hatte, offenbar völlig in Ordnung.
    »Wie ich darauf komme?«, fragte sie zurück und versuchte, dabei möglichst ruhig zu bleiben. »Sie haben ein Stück von seiner Niere weggenommen. Das haben Sie doch nicht einfach so gemacht.«
    »Nein, dafür hatte ich meine Gründe.«
    »Dafür hatten Sie Ihre Gründe? Ihre Gründe hatten Sie? Ich glaube Ihnen nicht. Es gab keine Gründe. Ich glaube Ihnen nicht mehr.«
    Er reagierte anders, als sie erwartet hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass er ihr die Tür weisen oder versuchen würde, sie von seinem Recht zu überzeugen. Aber er schien über alle Maßen bestürzt.
    »Sie glauben mir nicht, Frau Maenhout? Zweifeln Sie nun auch schon an mir? Ich habe Ihnen vertraut. Ich habe Ihnen immer vertraut, und nun sagen Sie so etwas. Warum? Ich habe doch …«
    Jetzt fängt er an, selbstmitleidig zu werden, dachte sie, weil er hofft, dass ich ihn dann auch bemitleide. Darauf darf ich nicht hereinfallen.
    »Ich will Ihr Geschwätz nicht mehr hören!«, schnitt sie ihm in resolutem Tonfall das Wort ab, obwohl ihr dabei die Beine zitterten. »Nichts von alledem, was Sie versucht haben, hat zu irgendetwas geführt. Nichts! Es wird Zeit, dass Sie sich das eingestehen. Sie wollten ihre Leben retten, aber Sie haben sie in den Tod gejagt. Das ist alles, was Sie getan haben!«
    Sie wollte weder sehen noch hören, wie er darauf reagierte. Nach ihrem letzten Satz stürzte sie aus dem Raum, weil sie sonst womöglich auf der Stelle in Tränen ausgebrochen wäre und damit ihre Schwäche gezeigt hätte.
    Es dauerte indes nicht lange, bis sie das Heulen nachholte, im Badezimmer, wo sie sich selbst im Spiegel ansah und sich fragte, warum sie ihn so lange hatte gewähren lassen.

10
    Sieben Tage. Von Montag bis Sonntag. So lange hatte Frau Maenhout sich selbst gegeben. Um den Kindern noch ein paar Dinge beizubringen. Um noch ein bisschen bei ihnen zu sein. Um Abschied zu nehmen. Sieben Tage. Danach würde sie Hilfe holen. Einen anderen Arzt. Einen Facharzt. Vielleicht sogar die Polizei. Darüber war sie sich noch nicht ganz im Klaren. Aber sie wusste sehr wohl, dass sie die Kinder dann verlieren würde.
    Sie aus den Händen geben. Sie treuen Händen anvertrauen. So wollte sie die Sache verstehen. Das würde ihr den Abschied erleichtern.
    Innerhalb dieser sieben Tage würde sie handfeste Beweise dafür zusammentragen müssen, dass der Doktor mit seinen Söhnen Missbrauch trieb. Sie würde schließlich nicht nur gegen seinen guten Ruf ankommen müssen, den viele aus dem Dorf sicher bestätigen würden, sondern auch gegen die Erklärungen des Doktors selbst, der all seine Untersuchungen und Maßnahmen rechtfertigen würde. Alles im Interesse der Gesundheit meiner Kinder, würde er sagen. Notwendig, um ihnen das Leben zu retten.
    Den Kindern selbst sagte sie nichts. Sie erzählte ihnen lediglich, dass am Ende der Woche ihr erstes Schuljahr vorbei wäre und dass sie deshalb noch schnell ein paar Dinge lernen sollten.
    »Und nach diesem Schuljahr?«, fragte Michael.
    Es war nicht leicht, ihnen etwas weiszumachen, sie musste aufpassen, was sie sagte.
    »Dann fängt ein neues Schuljahr an. Das macht bestimmt noch mehr Spaß. Viel mehr.«
    Zu den paar Dingen, die sie ihnen nun noch beibrachte, gehörte das Vaterunser. Über Jesus hatte sie noch immer nichts erzählt. Dazu war sie noch nicht gekommen.
    Die Kinder hatten keine

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