Der Engelmacher
verschlossen. Eigentlich genau wie ihr Vater, dachte sie mit Bedauern, aber dem war inzwischen jede Art von Neugier abhanden gekommen, falls er je welche besessen hatte. Wenn sie mehr Zeit gehabt hätte, hätte sie die drei zu voller menschlicher Blüte aufgehen sehen, hätte sie ans Licht befördert, was tief in ihnen verborgen lag, damit sie auch bestimmt nicht so wurden wie ihr Vater.
Wenn sie mehr Zeit gehabt hätte, wenn sie nur mehr Zeit gehabt hätte. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
Als sie am nächsten Morgen kurz vor halb sechs bei Doktor Hoppes Haus ankam, trat dieser gerade aus der Tür. Das Taxi war noch nicht da. Sie spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Der Doktor grüßte sie nicht, aber sie beschloss, so zu tun, als wäre nichts vorgefallen, und fragte: »Sind die Kinder schon wach?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er, während er das Tor aufschloss.
»Darf ich ins Haus? Darf ich zu ihnen?« Sie fragte sicherheitshalber nach, aber er schien ihr keine Schwierigkeiten machen zu wollen. Sie hatte sich wieder mal etwas eingebildet.
»Wenn Sie möchten. Sie haben doch einen Schlüssel.«
Er spähte die Straße hinunter.
»Wann kommen Sie denn zurück?«, fragte sie. »Dann richte ich mich mit dem Essen darauf ein.« Eine gute List hatte sie sich da ausgedacht, fand sie selbst, doch leider fiel seine Antwort enttäuschend aus.
»Sie brauchen nicht auf mich zu warten.«
»Gut, dann weiß ich Bescheid«, murmelte sie, und ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, ging sie den Pfad entlang zum Haus.
»Michael, Gabriel, Raphael, aufwachen!«
Sie hatte das Licht im Schlafzimmer angeknipst. Erst war bis auf ein Gemurmel keine Reaktion erfolgt, doch dann war Leben in die Bude gekommen.
»Aufwachen, wir verreisen!«
Ungläubig mit den Augen blinzelnd, hatten die drei Jungs sich halb aufgerichtet. Sie selbst hatte tief durchgeatmet und die Kinder der Reihe nach angesehen.
»Wie bitte, Frau Maenhout?«, hatte Michael gefragt und sich mit den Handrücken den Schlaf aus den Augen gerieben.
»Wir verreisen. Und ihr habt einen Auftrag zu erfüllen.«
»Einen Auftrag?«
Da hatte sie ihnen die Verkleidungen gezeigt. Drei Umhänge, drei Hüte und drei Masken aus Pappmaché. Die Umhänge und Hüte gab es in drei verschiedenen Farben: rot, grün und blau. Die Masken hatte sie silbergrau angemalt.
»Heute seid ihr die drei Musketiere. Das sind die Ritter des Königs.«
»Von welchem König?«, hatte Raphael wissen wollen.
»Von König Baudouin von Belgien. Und er hat einen Auftrag für seine Musketiere. Ihr sollt heute das Dreiländereck erobern.«
Die Bedeutung dieser Worte war ihnen nur langsam klar geworden.
»Steht mal lieber schnell auf, bevor der König es sich anders überlegt«, hatte sie deshalb hinzugefügt. Und innerhalb kürzester Zeit hatten sie alle drei in ritterlicher Haltung neben dem Bett gestanden.
Als sie angezogen waren, hatte sie ihnen schließlich die Masken aufgesetzt. In diese hatte sie jeweils zwei Löcher für die Augen und eines für den Mund geschnitten. Dann hatten sie noch die Hüte auf den Kopf und die Umhänge um die Schultern bekommen. Sie hatten den Stoff mit den Fingern befühlt, als wäre es kostbarer Samt.
»Eine Sache fehlt jetzt noch«, hatte Frau Maenhout dann gesagt und mit großem Brimborium drei hölzerne Schwerter aus ihrer Tasche hervorgezaubert. »Ihr müsst erst noch zum Ritter geschlagen werden.«
Durch die Löcher in den Masken hatten sie drei Augenpaare angestarrt.
»Kniet euch mal hin«, hatte sie gesagt.
Die Zeremonie war kurz, aber feierlich. Die Kinder hatten sich mit gesenkten Köpfen hingekniet, und mit dem Schwert hatte sie den dreien nacheinander auf die Schulter getippt. Dazu hatte sie gesagt: »Raphael, hiermit wirst du im Namen des Königs umgetauft zu Porthos, als da heißet der klügste der Musketiere. Gabriel, du wirst im Namen des Königs umgetauft zu Aramis, als da heißet der edelste der Musketiere. Und du, Michael, wirst im Namen des Königs umgetauft zu Athos, als da heißet der tapferste der Musketiere.«
Kaum hatte sie den Jungen die Schwerter überreicht, da war wie durch einen Zauber der Geist der Musketiere über sie gekommen. Alle drei hatten sich aufgerichtet, das Kinn in die Luft gereckt, die Schwerter erhoben, und mit den Lippen hatten sie die Namen nachgebildet, die sie soeben erhalten hatten.
Kurz darauf bewunderten sie sich selbst im Badezimmerspiegel, und Frau Maenhout sah atemlos zu. Weil
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