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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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beschäftigen konnte. Um zehn Uhr morgens und um drei Uhr nachmittags holte sie den Jungen im großen Saal ab, und zusammen zogen sie sich in ein Kämmerchen am anderen Ende des Klosters zurück, wo der Lärm der anderen Patienten sie nicht stören konnte. Regelmäßig kam Schwester Milgitha vorbei und warf einen Blick durch das bleiverglaste Fenster, das in die Tür eingelassen war. Manchmal kam sie auch herein, gab Schwester Marthe ein Zeichen weiterzulesen und blieb minutenlang regungslos in einer Ecke des Zimmers stehen. Dann ging sie wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben.
    »Sie beobachtet mich«, sagte Schwester Marthe zu Victor, nicht nur, um ihn zu beruhigen, sondern auch, weil sie überzeugt war, dass es stimmte.
    Sie tat deshalb auch gehorsam, was von ihr verlangt wurde, und las eine Stunde lang ununterbrochen aus der Bibel vor. Victor saß ihr dann auf einem hohen Stuhl gegenüber, die Hände gefaltet auf dem Tisch, den Kopf leicht vorgebeugt, und regte sich die ganze Stunde über nicht. Sie wusste nicht, ob die biblischen Geschichten ihm gefielen und ob er von der feierlichen Sprache viel verstand – »Darum geht es nicht«, hatte Schwester Milgitha gesagt –, aber zumindest war er aufmerksam bei der Sache. So aufmerksam gar, dass sie ihn fragen konnte, ob er noch wisse, wo sie das Mal zuvor aufgehört hatten, und sogleich konnte er ihr auswendig den letzten Satz wiederholen, wörtlich. Damit bewies er ein weiteres Mal, was für ein außergewöhnliches Gedächtnis er hatte. Sie fand, auch das sei ein Zeichen von Intelligenz, aber darauf angesprochen, meinten die anderen Schwestern, damit habe es nichts zu tun.
    »Er ist debil, Schwester Marthe, vergiss das nicht«, sagte Schwester Noëlle.
    »Einmal debil, immer debil«, sagte Schwester Charlotte.
    Marthe weigerte sich, das zu glauben, aber konnte zu ihrem Bedauern auch keine Beweise für Victors Intelligenz vorlegen.
    Bis der Junge eines Tages selbst den Beweis lieferte. Es waren ein paar Wochen vergangen seit den ersten Vorlesesitzungen, und Schwester Marthe war bei Kapitel 25 im Buch Exodus angelangt. Als sie Victor nach dem Ende des vorigen Kapitels fragte, sagte er: »Und-Mofes-ging-mit-ten-in-die-Wol-ke-undstieg-auf-den-Be-rrg-und-blieb-auf-dem-Berr-ge-vier-tig-Tageund-vier-tig-Nach-te.«
    »Mo-s-es, Victor«, sagte sie. »Mit einem runden S. Wie in Seide.«
    Ohne dass die Äbtissin etwas davon erfuhr, arbeitete sie mit ihm an seiner Aussprache. Immer wenn er ein Wort falsch aussprach, machte sie ihm die entsprechenden Laute noch einmal vor und verlangte, dass er ihr nachsprach. Er tat dann immer sein Bestes, aber manche Laute bekam er einfach nicht hin. Trotzdem machte er schnell Fortschritte, wenn Schwester Marthe auch bezweifelte, dass diese als Beweis für seine Intelligenz herhalten konnten.
    »Mo-sch-es«, wiederholte Victor.
    »Schon besser«, sagte sie, auch wenn es noch lange nicht gut war. Aber sie wollte ihm nicht zu viel zumuten. Sonst gab er vielleicht auf und arbeitete nicht mehr mit.
    Sie schlug die Bibel mit Hilfe des Lesebändchens an der Stelle auf, wo sie zuletzt stehen geblieben war, und legte sie auf den Tisch. Da streckte Victor die Hand aus und legte den Finger auf den Goldschnitt des Buches.
    »Schön, was?«, sagte sie.
    »Moo-sch-es«, sagte Victor.
    Er hatte sie nicht verstanden. Manchmal reagierte er ganz anders, als sie erwartet hatte, und das nahm ihr mitunter allen Mut, noch mehr Energie in ihn hineinzustecken.
    Er streckte die Hand noch weiter aus und hielt den Zeigefinger auf die aufgeschlagene Seite.
    »Moo-sch-es«, sagte er wieder.
    »Das stimmt, Victor«, sagte sie nickend, »da waren wir stehen geblieben. Bei Moses, der auf dem Berg ist.«
    »Móó-sch-es!«, sagte er nun mit Nachdruck und zeigte mit dem Finger verkrampft auf eine andere Stelle im Buch.
    Er deutete auf den Namen Moses. Da ging ihr plötzlich ein Licht auf. Ihr Blick wanderte von dem Finger des Jungen zu seinem Gesicht. Auch seine Augen hatte er auf das Wort gerichtet.
    »Moses«, sagte sie mit leichter Aufregung in der Stimme.
    »Da steht Moses. Genau. Sehr gut, Victor. Und wo steht das Wort Moses sonst noch?«
    Sein Finger wanderte über die Seite und blieb an einer anderen Stelle hängen. Jetzt war er nicht mehr so verkrampft.
    »Gut, Victor, sehr gut! Und wo sonst noch?«
    Wieder bewegte sich sein Finger. Und wieder fand er die fünf Buchstaben.
    Er kann lesen, dachte sie. Heilige Mutter Gottes, er kann lesen!
     
    Es war eine vorschnelle

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