Der Engelmacher
Litanei hervor.
»Victor«, rief sie leise, »Victor, hier ist Wasser für dich.«
Der Junge fuhr unbeirrbar fort zu beten. Ihr wurde beklommen zumute. Hatte sie das alles etwa nur geträumt? Sie warf einen kurzen Blick auf das leere Schokoladenpapier auf dem kleinen Tisch neben dem Bett und runzelte die Brauen.
»Victor? Du wolltest doch Wasser, oder?«
Sie hörte zu, was er vor sich hin sprach. Es war die Litanei von der göttlichen Vorsehung: »… verleih uns gnädig, dass wir durch deine Eingebung erkennen, was recht ist, und es unter deiner Leitung allzeit vollbringen. Allmächtiger Gott, wir bitten dich: Hilf uns, dass wir in unserer Trübsal auf deine Güte vertrauen und gegen alle Widerwärtigkeiten durch deinen Schutz gesichert werden. Gott, dessen Vorsehung sich in ihren Anordnungen nicht täuscht, wir bitten dich demütig, wende alles Schädliche von uns ab und gewähre uns alles Gute. Durch Christus, unseren Herrn. Amen.«
Kaum hatte sie sich bekreuzigt, da richtete Victor sich bereits wieder auf. Ohne sie anzusehen, griff er nach dem Glas.
»Dan-ke«, sagte er.
»Gern geschehen«, sagte sie, und so, dass Victor es nicht hörte, seufzte sie auf.
»Sollen wir noch schnell zusammen für Egon beten?«, fragte sie dann.
Victor nickte. Ihr fiel auf, dass er noch immer jeden Augenkontakt mied. Sie war in gewisser Weise zwar zu ihm vorgedrungen, aber er wahrte weiterhin seinen Abstand.
Sie beteten zusammen die Litanei zum Heiligen Josef, und als sie fertig waren, schlug Schwester Marthe ihm vor, noch ein wenig zu schlafen. Es war jetzt vier Uhr morgens. Sie merkte, dass er zögerte.
»Egon ist bestimmt damit einverstanden«, sagte sie dann.
»Da bin ich ganz sicher.«
Das schien den Jungen zu beruhigen. Er schloss die Augen, und sie fing an, leise zu singen.
»De bloempjes gingen slapen. Zij waren geurensmoe. Zij knikten met hun kopjes me welterusten toe.« (»Die Blümelein, sie schlafen schon längst im Mondenschein. Sie nicken mit den Köpfchen auf ihren Stängelein.«) Dann unterbrach sie sich und sagte: »Das ist ein altes niederländisches Schlaflied, Victor, meine Großmutter hat das immer gesungen.«
Aber Victor war bereits in Schlaf gefallen.
Am nächsten Morgen konnte Schwester Milgitha mit eigenen Augen sehen, wie Victor sein Butterbrot aß. Mit krummem Rücken und vorgebeugtem Kopf saß er im Schneidersitz auf seiner Matratze und hielt sich das Brot dicht vor den Mund, während er nach und nach kleine Stücke davon abknabberte.
Schwester Marthe stand neben der Äbtissin. Ihre Augen strahlten. Sie war an jenem Morgen zusammen mit den anderen Schwestern aufgestanden, obwohl sie eigentlich hätte ausschlafen dürfen, und hatte der Äbtissin die Neuigkeit sofort erzählt. Die hatte ungläubig reagiert und es erst selbst sehen wollen. Genau wie der Apostel Thomas seinen Finger auf die Wunden Jesu gelegt hatte, bevor er bereit war zu glauben, dass dieser auferstanden war, hatte Schwester Marthe gedacht.
Erst hatte sie Angst gehabt, dass Victor im Beisein von Schwester Milgitha vielleicht doch nichts essen würde, aber als sie ihm ein Butterbrot hingehalten hatte, hatte er es sofort genommen.
»Hier, bitte«, hatte sie gesagt.
»Dan-ke«, hatte er geantwortet.
Und nun sah sie zusammen mit der Äbtissin zu, wie Victor wieder aß. Sie hatte das Gefühl, einen glorreichen Sieg erstritten zu haben.
»Das Vorlesen hat geholfen. Das Böse ist erfolgreich bekämpft worden«, sagte Schwester Milgitha. »Ich wusste, dass es gelingen würde. Die Schwestern haben gute Arbeit geleistet.«
Schwester Marthe meinte, nicht recht gehört zu haben. Sie blinzelte mit den Augen, und als sie sah, dass die Äbtissin sie anschaute, konnte sie ihre Enttäuschung nicht verbergen.
»Du auch, Schwester Marthe«, reagierte die Äbtissin in trockenem Tonfall. »Du hast auch gute Arbeit geleistet.«
Ganz kurz spürte sie noch die Hand der Äbtissin auf ihrer Schulter.
Das war alles.
Schwester Milgitha hatte beschlossen, dass Victor vorerst weiter aus der Bibel vorgelesen werden sollte, zwei Stunden täglich. Für den Fall, dass der Teufel zurückzukehren versuche. Die Aufgabe fiel Schwester Marthe zu, nicht weil sie so einen guten Draht zu dem jungen Patienten hatte, sondern weil sie nach Ansicht der Äbtissin auf diese Weise zugleich ihre Bibeltexte einstudieren konnte.
Für Schwester Marthe spielte der Grund keine Rolle. Sie war froh, dass sie sich überhaupt zwei Stunden täglich alleine mit Victor
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