Der Engelmacher
diese Anomalie stark verformt war. Oberhalb der Narbe war bei der Operation der eine Nasenflügel nach oben verzogen worden, wodurch das rechte Nasenloch viel breiter war als das linke.
»Daran sieht man, dass er debil ist«, hatte Schwester Noëlle ihr erklärt.
Sie starrte auch auf sein rotes Haar und fand im Gegensatz zu dem, was alle anderen Schwestern überzeugt bekundeten, nichts Teuflisches daran. Sie berührte es sogar vorsichtig. Und nichts geschah. Sie verbrannte sich nicht die Hand. Sie wurde nicht vom Blitz getroffen. Keineswegs.
Oder doch: Genau in dem Augenblick, als sie dem Jungen die Hand auf die Stirn legte, verstummte er kurz. Dann aber entströmte seinem Mund wieder jener unablässige Wortschwall, gegen den sie beim Vorlesen mit ihrer eigenen Stimme ankommen musste. Das gelang ihr nicht gerade gut. Sie ließ sich mitreißen von seiner Stimme. Seine Worte lenkten ihre Aufmerksamkeit immer wieder von der auf ihrem Schoß liegenden Bibel ab.
Er artikulierte undeutlich. Die Laute suchten sich einen Weg über die Nase, wodurch seine Stimme etwas Ersticktes bekam. Aber weil er ständig Litaneien herunterbetete, konnte ein guter Zuhörer die Klänge dennoch in Worte übersetzen.
Unter einigen Schwestern war es einmal zu einer Diskussion über die Intelligenz des Jungen gekommen. Wer solche langen Verse auswendig konnte, konnte nicht debil sein, hatten manche behauptet. Andere hatten erwidert, selbst ein Papagei könne schließlich Verse auswendig lernen. Schließlich hatte sich Schwester Milgitha eingemischt und gesagt, was der Junge von sich gebe, seien keine Litaneien, sondern die Einflüsterungen des Teufels. Damit hatte die Äbtissin den Streit beigelegt.
Aber Schwester Marthe hörte es trotzdem. Sie erkannte auf Anhieb die Litanei zum Heiligen Josef und auch die zum Heiligen Geist. Ohne zu hapern, betete Victor sämtliche Litaneien der Reihe nach herunter, in Französisch oder Deutsch, und er machte es sogar besser, als sie selbst es je gekonnt hatte. Sie hatte sich damit abgeplagt, die Gebetsreihen auswendig zu lernen, und jedes Mal, wenn sie sie vor Schwester Milgitha hatte aufsagen müssen, hatte sie mittendrin nicht mehr weiter gewusst oder ein paar Zeilen vergessen. Weil sie es nie geschafft hatte, hatte Schwester Milgitha ihre Aufnahme ins Noviziat immer wieder verzögert. Schließlich war sie doch noch zur Novizin befördert worden, aber die Äbtissin hatte ihr ausdrücklich gesagt, sie dürfe die zeitlichen Gelübde nicht ablegen, wenn sie bis dahin die Litaneien noch immer nicht aufsagen könne.
Darum fing Schwester Marthe bereits in jener ersten Nacht an, Victor die Worte nachzusprechen. Im Flüsterton, damit man ihre Stimme auf dem Gang nicht hörte. Und wenn von irgendwo draußen ein Geräusch zu ihr drang, unterbrach sie sich und las weiter laut aus der Bibel vor, so wie man es von ihr erwartete.
Am Nachmittag darauf übernahm sie den Dienst von Schwester Noëlle und las zwei Stunden lang am Bett des jungen vor. Als sie fertig war, sagte sie ihm noch schnell ins Ohr, sie freue sich darauf, in der Nacht wieder mit ihm zu üben. Aber es erfolgte keine Reaktion.
Die zweite Nacht verlief genau wie die erste.
»Du-Eis-er-Eis-eit-unes-Ver-tandes«, sagte Victor.
»Du Geist der Weisheit und des Verstandes«, sprach Marthe mit.
»Du-Eis-es-Rates-uner-erke«, sagte Victor.
»Du Geist des Rates und der Stärke«, wiederholte Schwester Marthe.
Und am Ende der Nacht streichelte sie erneut sein rotes Haar und fragte ihn: »Betest du für Egon?«
Er nickte. Ansonsten blieb er teilnahmslos.
»Das ist gut. Dann wird er sicher Frieden finden«, sagte sie.
Er reagierte nicht. Aber als sie kurz darauf aus dem Raum ging, spürte sie, dass er ihr nachsah. Sie blickte über die Schulter zurück und sah, wie er schnell den Kopf abwandte.
»Du musst etwas essen«, sagte Schwester Marthe. Sie hielt Victor einen Riegel Schokolade unter die Nase.
Mit einem Ruck wandte er den Kopf ab.
Sie saß nun schon die vierte Nacht bei ihm. Die vorherige war etwas Besonderes gewesen. Victor hatte ein Spiel mit ihr gespielt. Zumindest hatte es zunächst danach ausgesehen.
Er hatte die Litanei, die er gerade herunterbetete, regelmäßig unterbrochen, und sie hatte alleine weitergesprochen. Ein paar Zeilen später hatte er wieder eingesetzt. Das hatten sie ein paar Mal wiederholt. Aber als sie einmal einen Fehler gemacht hatte, hatte er den Kopf geschüttelt und sie verbessert. Da hatte sie begriffen,
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