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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Schlussfolgerung. Das hatte sie gemerkt, als sie auf andere Worte im Text gezeigt hatte. Victor hatte nicht ein einziges davon lesen können. Er hatte wahrscheinlich anhand der identischen Zeichen und des auffallenden Großbuchstabens M, der von ihm aus betrachtet eigentlich ein W war, ableiten können, welches der Wörter der Name Moses war, aber das war auch alles. Insofern hatte er aber immerhin entdeckt, dass jedes einzelne Wort, das sie ausgesprochen hatte, mit einer Kombination von Zeichen übereinstimmte, die auf dem Blatt standen. Das war in ihren Augen auch schon eine bemerkenswerte Leistung, schließlich war er kaum drei Jahre alt. Um zu überprüfen, ob ihre Annahme richtig war, hatte sie einfach einen kleinen Test angestellt. Sie hatte auf derselben Seite auf das Wort »ein« gezeigt und es zugleich deutlich ausgesprochen. Blitzschnell hatte er daraufhin mit dem Finger jedes einzelne »ein«, das auf der Seite zu finden war, angewiesen und dann ungeduldig darauf gewartet, dass sie ihm ein neues Wort beibrachte. Da hatte sie ihren Entschluss gefasst. Sie würde ihm das Lesen beibringen und so alle anderen Schwestern davon überzeugen, dass er nicht debil war.
     
    * * *
     
    Am 14. Februar 1979 – die zwei Frauen waren äußerst erfreut über das Datum und überzeugt, dass es Glück bringen würde – brachte Victor Hoppe bei ihnen beiden einen jeweils drei Tage alten rekonstruierten Embryo ein. Aus zwei Eizellen eines anonymen Spenders hatte er den Kern entfernt und stattdessen die jeweiligen Kerne aus den Eizellen der beiden Frauen injiziert. Nach der Verschmelzung der Kerne hatten beide Eizellen angefangen, sich zu teilen, und nach drei Tagen war ein sechzehn Zellen großer Embryo entstanden. Das war noch immer kleiner als der Kopf einer Stecknadel.
    Zwei Tage, bevor er die Frauen behandelt hatte, hatte er einen Brief aus der Redaktion von Science erhalten.
    Darin stand unter anderem: »Wir gratulieren Ihnen herzlich zu Ihren fortschrittlichen Forschungen und den Resultaten, die Sie damit erzielt haben und von denen wir alle überrascht waren. [ … ] Ihre Erkenntnisse markieren möglicherweise den Anfang einer neuen Ära. [ … ] Gern würden wir sie sofort publizieren, gäbe es nicht bei einigen Punkten noch Erläuterungsbedarf. In dem beigefügten Gutachten finden Sie eine Reihe von Fragen und Bemerkungen [ … ].«
    Kopfschüttelnd hatte er das Gutachten durchgesehen, das dem Brief beilag. Die meisten Bemerkungen hatte er irrelevant gefunden. Prozesse und Verfahrensweisen, die er selbstverständlich fand, sollte er näher erklären. Für logische Folgen sollte er Beweise erbringen. Am empörendsten fand er noch die Bitte um Referenzen, die wie folgt formuliert war: »[ … ] Namen von Kollegen, die einigen oder gar allen Versuchen beigewohnt haben, bzw. von (universitären) Einrichtungen, unter deren Dach die Versuche stattgefunden haben.«
    Sie glauben mir nicht, hatte er gedacht. Er fühlte sich beleidigt. Und herabgewürdigt.
    Enttäuscht hatte er den Brief und das Gutachten irgendwo weggesteckt.
    Noch am selben Tag fand in einer Petrischale die Verschmelzung der Kerne aus den Eizellen der beiden Frauen statt. Dieses Ereignis ließ ihn seine Enttäuschung vergessen.
     
    Das Gutachten endete mit der Frage: »Haben Sie den Versuch bereits wiederholt?«
    Das hatte er nicht getan. Nachdem die Mäuse geboren worden waren, hatte er seine Technik lediglich noch bei menschlichen Eizellen angewandt.
    Die vorletzte Frage lautete: »Sind die rekonstruierten Mäuse selbst fruchtbar?«
    Darauf konnte er sowieso nicht antworten. Die Tiere waren alle drei plötzlich gestorben. Die erste Maus nach zehn Tagen, die anderen beiden nach drei Wochen. Er hatte sie seziert, aber nichts Auffälliges feststellen können.
     
    Eine der beiden Frauen wurde schwanger. Bei der anderen hatte sich die Frucht wahrscheinlich nicht in der Gebärmutterschleimhaut eingenistet. Die Freude war groß, die Angst vor einer Missgeburt noch größer. Auf seinen Rat hin mieteten die Frauen für die Dauer der Schwangerschaft eine Wohnung in Bonn, fünf Minuten Fußweg von seiner Praxis entfernt. Die erste Ultraschalluntersuchung wollte er nach sechs Wochen durchführen. Dann wären das klopfende Herz und die Wirbelsäule sichtbar.
    In der Zwischenzeit schrieb er seinen Artikel für Science. Durch das gelungene Experiment mit den menschlichen Embryos war ihm klar geworden, dass er erst seinen vorigen Bericht abschließen musste, bevor er

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