Der Engelmacher
zurück zu seinem Bett, wo er erst noch eine Litanei für Egon Weiss aufsagte. Sie saß dabei auf dem Rand seiner Matratze neben ihm.
»Schlaf gut, Victor«, flüsterte sie, wenn er fertig war. »Morgen lernen wir wieder einen neuen Buchstaben.«
»Welchen denn?«, fragte er jedes Mal.
»Das ›B‹ von Baum«, verriet sie dann. Oder: »Das ›K‹ von Katze.«
Die Unterrichtsstunden, die sie Victor gab, stachelten wieder Schwester Marthes Sehnsucht danach an, Lehrerin zu werden. Die kurze Zeit, die sie mit dem Jungen alleine verbrachte, war ihr sehr viel wichtiger als alle anderen Stunden des Tages. Victor gab ihr das Gefühl, dass sie etwas Sinnvolles tat, und seine schnellen Fortschritte bestärkten sie in dem Glauben, dass sie dazu bestimmt war, Lehrerin zu werden. Wenn sie auch Schwester Milgitha von ihrem Talent überzeugen könnte, sah die vielleicht ein, dass sie viel mehr konnte als Windeln wechseln und Nachttöpfe leeren. Vielleicht würde die Äbtissin ihr dann sogar erlauben, ihr Noviziat in einem Kloster fortzusetzen, wo sie zur Lehrerin ausgebildet werden konnte. Wenn Schwester Milgitha zustimmte, hätten ihre Eltern sicher auch nichts dagegen einzuwenden.
Um die Äbtissin zu überzeugen, musste Schwester Marthe ihrem Schüler bloß noch ein bisschen mehr einpauken, und deshalb fing sie an, das Tempo der Unterrichtsstunden zu steigern. Sie übernahm Nachtdienste von anderen Schwestern und ließ den Jungen bisweilen drei Stunden am Stück üben. Sie brachte ihm nicht nur neue Wörter bei, sondern auch einfache kleine Verse, die sie in ihrer schönsten Schrift auf ein Blatt Papier schrieb. Auch tagsüber, beim Vorlesen, übte sie zwischendurch mit ihm, indem sie ihn in der Bibel nach Wörtern suchen ließ, die er schon kannte. Manchmal gelang es ihm sogar schon, einen vollständigen Satz zu entziffern.
Mit zunehmender Intensität der Unterrichtsstunden nahm allerdings ihre Vorsicht ab. Und eines Tages wurde sie von Schwester Milgitha angesprochen.
»Schwester Marthe, was hat Victor nachts in der Schwesternkammer zu suchen?«
Sie spürte, wie sie errötete.
»Wie bitte?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen. Einer der Patienten musste sie mit Victor gesehen und es der Äbtissin erzählt haben. Aber die hatte doch selbst gesagt, man dürfe nie glauben, was die Patienten erzählten.
»Ich weiß, dass Victor nachts bei dir sitzt«, sagte die Äbtissin bestimmt. »Darf ich fragen, warum?«
Sie konnte ihr die Wahrheit erzählen, aber dann würde Victor wahrscheinlich sofort abgehört werden und total dichtmachen.
»Victor leidet unter schrecklichen Alpträumen«, antwortete sie schnell.
Die Äbtissin sah sie zweifelnd an.
»Wenn ich ihn nicht kurz mit zu mir nehme«, fügte die Novizin hinzu, »weckt er alle anderen auf mit seinem Geschrei.«
»Was für Alpträume?«
»Das weiß ich nicht, Schwester Milgitha. Er will davon nichts erzählen.«
Sie fand, dass sie sich glaubwürdig angehört hatte. Sie spürte, wie sie langsam wieder ruhiger wurde, je mehr der beschuldigende Blick aus den Augen der Äbtissin verschwand.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Schwester Milgitha.
»Das ist nicht nötig, glaube ich. Victor ist …«
»Nicht um Victor, Schwester Marthe. Um dich.«
Eine solche Bemerkung hatte sie nicht erwartet. Sie sah die Äbtissin mit einem Stirnrunzeln an.
»Du siehst in letzter Zeit so blass aus.«
»Ich …«, setzte sie an, aber die Äbtissin unterbrach sie gleich wieder.
»Vielleicht solltest du lieber eine Weile keine Nachtdienste mehr machen. Und die zwei Stunden Vorlesen jeden Tag sind sicher auch sehr ermüdend. Schwester Noëlle wird diese Aufgaben übernehmen.«
Es waren Vorwände! Sie spürte genau, dass es nur Vorwände waren. Die Äbtissin wollte sie von Victor trennen. Das war der Grund!
»Ich … ich fühle mich sehr gut«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Mir fehlt überhaupt nichts.«
»Mir scheint es besser so. Dann kannst du dich wieder ganz auf deine anderen Aufgaben konzentrieren.«
Sie fühlte sich in die Enge getrieben. Und sie wusste, dass Widerspruch zwecklos war. Sie hatte keine Wahl mehr.
»Victor kann lesen«, brachte sie schüchtern vor. Sie hatte immer gedacht, sie würde diese Worte eines Tages mit angemessenem Stolz aussprechen, aber nun kam es ihr vor, als hätte sie ein Schuldbekenntnis abgelegt.
»Victor kann was?«
»Er kann lesen. Ich habe ihm Lesen beigebracht, Schwester Milgitha.«
Ihre Stimme klang dünn. Was ein Verdienst hätte
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