Der Engelmacher
dass er sie abhörte. Sie, eine junge Frau von zwanzig Jahren, war seine Schülerin. Er, ein Kind von drei Jahren, war ihr Lehrer.
Zwei Stunden lang hatten sie so weitergemacht, mit drei kurzen Pausen zwischendurch, in denen Victor unwillkürlich vom Schlaf übermannt worden war. Er hatte schon eine Woche lang nichts mehr gegessen, und der Hunger forderte allmählich seinen Tribut. Die Äbtissin hatte angekündigt, ihm eine Spritze mit unverdünnter Glukose zu geben, wenn er weiterhin die Nahrungsaufnahme verweigern sollte. Schwester Noëlle hatte hinzugefügt, das sei allerdings nicht risikolos, ohne jedoch zu sagen, welcher Art die Gefahren waren. Deshalb hatte sich Schwester Marthe vorgenommen, Victor in der nächsten Nacht davon zu überzeugen, dass er etwas essen musste.
»Du musst doch was essen«, sagte sie zum wiederholten Male.
Victor presste die Lippen weiter steif aufeinander.
»Wenn du nichts isst, wird Schwester Milgitha dir wieder wehtun.«
Nicht die geringste Reaktion. Als rede sie auf eine Wand ein.
»Wenn du nichts isst, stirbst du.«
Auch auf diesen Satz hin war keine Regung in seinem bleichen Gesicht zu erkennen.
»Wenn du tot bist, dann kannst du nicht mehr für Egon beten.«
Ganz kurz nur zog Victor die Augenbrauen zusammen, nur ganz kurz, aber damit wusste sie genug.
»Niemand wird dann noch für Egon beten«, sagte sie. »Die Schwestern werden es nicht tun.«
Jetzt fing Victor an, nervös mit den Fingern am Bettlaken herumzupulen, das seine Brust nur halb bedeckte.
»Die anderen Patienten auch nicht«, fuhr sie fort. »Niemand. Marc François nicht. Angelo Venturini nicht. Nico Baumgarten nicht. Niemand. Niemand wird für Egon beten, wenn du nicht mehr da bist.«
Sie sah, wie seine Augen sich ihr zuwandten.
»Nein, ich auch nicht, Victor. Denn wenn du tot bist, dann muss ich für dich beten.«
Es war eine etwas seltsame Logik, der Schwester Marthe da gefolgt war. aber doch zumindest eine, die der kleine Victor Hoppe verstand.
Wenn. Dann. Das eine zog das andere nach sich. Eine Kettenreaktion.
Wenn. Dann. Das war die Art und Weise, wie sein Gehirn funktionierte.
Schwester Marthe brach ein Stück von der Schokolade ab und hielt es Victor direkt vor den Mund. Der Junge öffnete die Lippen und ließ es zu, dass sie ihm die Süßigkeit auf die Zunge legte.
»Vielleicht setzt du dich besser auf«, sagte sie, »sonst verschluckst du dich noch.«
Er hob den Kopf, sah sich verwirrt um, als werde ihm erst jetzt bewusst, dass er sich nicht in dem großen Saal befand, und richtete sich auf. Es tat ihr gut zu sehen, wie Victor sich die Schokolade auf der Zunge zergehen ließ. Ohne etwas zu sagen, nahm er noch ein Stück und steckte es sich in den Mund. Und dann noch eins und noch eins. Er aß immer gieriger, als merke er plötzlich, was für einen Hunger er eigentlich hatte.
»Jetzt willst du bestimmt auch ein bisschen Wasser«, sagte sie, als der Junge sich gerade das letzte Stück in den Mund gesteckt hatte.
Er nickte und sagte etwas, was sie nicht verstand.
»Wie bitte?«, fragte sie. Es war das erste Mal, dass er tatsächlich mit seiner Stimme kommuniziert hatte.
»Ja-ester«, wiederholte er. Und fügte hinzu: »ehr-er-ne.«
Sie war verblüfft. Keine der Schwestern hatte ihm das beigebracht. Außer Laufen war ihm überhaupt nie etwas beigebracht worden. Die ganze Zeit über, die er geschwiegen hatte, hatte er offenbar unablässig beobachtet und zugehört und alles irgendwo gespeichert. Für den Tag, an dem er es nötig hätte. Oder sein Wissen einsetzen wollte.
»Dann hole ich mal Wasser. Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging in den Waschsaal, um ein Glas mit Wasser zu füllen. Am liebsten wäre sie sofort zu Schwester Milgitha weitergelaufen, um ihr die Neuigkeit zu erzählen: »Victor isst!« Und: »Victor spricht!«
Aber die Äbtissin durfte nur im Notfall geweckt werden. Und dies schien ihr kein Notfall. Im Gegenteil . Dies war eine gute Nachricht. Nicht nur, was Victor betraf, sondern auch, was sie selbst anging. Sie hatte sofort ihre Eignung zur Novizin unter Beweis gestellt. Sie, Schwester Marthe, in einem vorigen Leben noch Lotte Guelen, hatte Victor wieder dazu gebracht zu essen. Und bei ihr hatte er auch zu sprechen begonnen. Damit war ihr gelungen, woran alle anderen Schwestern gescheitert waren. Und darum konnte sie durchaus stolz auf sich sein.
Als sie mit dem Glas Wasser zurückkam, lag Victor wieder auf dem Rücken. Aus seinem Mund sprudelte schon wieder eine
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