Der Engelsturm
schmalen Grab. Aber es gab keinen Ausweg. Er war wieder einmal allein, ganz und gar allein.
Alle Knochen im Leib taten ihm weh, während er versuchte, die schrecklichen Bilder zu bannen, die sich in seinen verstörten Gedanken festsetzen wollten. So schritt er weiter, hinab in die Schatten.
13
Die gefallene Sonne
olair sah auf das, was von seiner Hernystiri-Schar noch übrig war. Von den rund hundert Männern, die ihre Heimat im Westen verlassen hatten, um mit ihm zu reiten, lebten noch etwas mehr als vierzig. Sie saßen am Fuß des Hangs vor Naglimund an ihren Feuern, zusammengekauert, mit eingefallenen Gesichtern, die Augen leer wie ausgetrocknete Brunnen.
Diese armen, tapferen Männer, dachte Eolair. Werden wir jemals erfahren, ob wir gewonnen haben? Der Graf fühlte sich blutleer und mutlos wie sie, körperlos wie ein Geist.
Während er von einem Feuer zum anderen ging, wehte eine fremdartige Musik vom Berg zu ihnen herunter. Der Graf merkte, wie die Männer erstarrten, und hörte, wie sie beklommen miteinander flüsterten. Es war nur der Gesang der Sithi, die vor den geborstenen Mauern von Naglimund Wache gingen … aber selbst die mit den Hernystiri verbündeten Sithi waren ihnen so fremd, dass sie den Menschen Angst einflößten. Und die Nornen, die dunklen, unsterblichen Vettern der Sithi, sangen ebenfalls.
Die vierzehntägige Belagerung hatte die Mauern der Feste dem Erdboden gleichgemacht, aber die weißhäutigen Verteidiger hatten sich lediglich ins Innere der Burg zurückgezogen, das sich als erstaunlich uneinnehmbar erwies. Dabei mussten Kräfte im Spiel sein, die Eolair nicht verstehen konnte, Dinge, die selbst der Kopf des klügsten menschlichen Heerführers nicht fassen könnte, und er selbst war, wie er nur zu gut wusste, kein Heerführer, sondern ein eher unwilliger Höfling und geschickter Diplomat. Kein Wunder, dass er genau wie seine Männer das Gefühl hatte, gegen einen Strom zu schwimmen, der für seine schwachen Kräfte viel zu reißend war.
Die Nornen hatten ihre Verteidigung auf etwas gegründet, das, als Jiriki es ihm erläuterte, wie pure Zauberei klang. Sie hatten ein »Zögern gesungen«, erklärte der Prinz, und die »Schattenherrschaft« eingesetzt. Solange ihre Musik nicht durchschaut und die Schatten nicht entwirrt wurden, konnte die Burg nicht fallen. Inzwischen ballten sich über ihnen Wolken zusammen, entluden kurze Sturmböen und verschwanden wieder. Zu anderen Zeiten, bei klarem Himmel, flammten Blitze auf und Donner grollte. Manchmal schien der Nebel um den Bergfried sich zu verhärten und zu funkeln wie Kristall. Dann wieder verfärbte er sich blutrot oder tintenschwarz und krallte seine Fühler hoch oben in den Himmel. Eolair bat inständig um Aufklärung, aber für Jiriki waren das, was die Nornen taten, und das, womit seine eigenen Gefährten es ihnen zu vergelten suchten, nicht merkwürdiger als hölzerne Belagerungstürme oder Rammböcke. Die Begriffe der Sithi wiederum sagten ihm nichts und ließen ihn verwundert und kopfschüttelnd zurück. Er war mit seinen Männern in eine jener Schlachten zwischen Ungeheuern und Zauberern geraten, von denen Lieder der Barden erzählten. Darin war kein Platz für Menschen, und sie wussten es.
Grübelnd wanderte der Graf im Kreis herum, bis er endlich wieder an seinem eigenen Feuer ankam.
Dort begrüßte ihn Isorn. »Eolair! Ich habe Euch die letzten Züge aufgehoben.« Er winkte den Grafen heran und streckte ihm den Weinschlauch entgegen.
Eolair nahm, mehr aus Kameradschaft, einen Schluck. Er war nie ein großer Trinker gewesen, schon gar nicht, wenn er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte. An einem fremden Hof einen kühlen Kopf zu bewahren fiel weit schwerer, wenn man üppige Mahlzeiten mit entsprechenden Alkoholmengen hinuntergespült hatte. »Danke.« Er wischte von einem Holzklotz die dünne Schneeschicht ab, setzte sich hin und hielt die Stiefelsohlen ans Feuer. »Ich bin müde«, bemerkte er leise. »Wo ist Maegwin?«
»Vorhin ist sie spazieren gegangen, aber jetzt schläft sie bestimmt schon.« Isorn wies auf ein in der Nähe stehendes Zelt.
»Sie sollte nicht allein herumwandern«, sagte Eolair.
»Einer der Männer war bei ihr. Und sie entfernt sich nicht weit.Ihr wisst, dass ich sie nicht fortgehen lassen würde, nicht einmal unter Aufsicht.«
»Ja, ich weiß.« Er schüttelte den Kopf. »Aber sie ist so verstört, dass es mir wie ein Verbrechen vorkommt, sie auf ein Schlachtfeld mitzuschleppen – vor
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