Der Engelsturm
kurzentschlossen den Erdhügel hinauf. Irgendwo über ihm musste der Himmel sein. Seine Angst wurde immer größer. Bestimmt würde Binabik nach ihm graben. Wie aber sollte der Troll ihn finden, wenn Simon sich nicht bemerkbar machte? Zuerst rutschte er für jede Elle,die er nach oben kroch, wieder eine Elle hinunter, bis es ihm gelang, nicht mehr so viel Erde loszutreten. Schließlich war er so weit oben, dass er das Tunnelende mit den Händen erreichen konnte. Dort fing er hektisch an zu graben. Aber obwohl der Sand um ihn nur so spritzte, sackte immer wieder neue Erde nach. Allmählich wurden seine Bewegungen immer unkontrollierter. Er riss an der nachgiebigen Erde, schaufelte große Hände voll beiseite und ließ dabei nur immer wieder neue Lawinen von oben herunterstürzen, eine sinnlose Arbeit. Tränen strömten über sein Gesicht und mischten sich mit den Schweißperlen, bis ihm die Augen brannten. So viel er auch grub, er würde nie oben ankommen.
Schließlich hielt er inne, zitternd, fast gürtelhoch in aufgehäufter Erde. Sein Herz raste so, dass ihm zunächst nicht auffiel, wie viel dunkler es im Tunnel geworden war. Erst als er sich umdrehte, begriff er, dass sein wildes Wühlen die Fackel um ein Haar zum zweiten Mal begraben hätte. Erschrocken starrte er sie an, von jäher Angst erfüllt, nachrutschender Sand könnte die Flamme ganz und gar verschütten, sobald er versuchte, den lockeren Hang wieder hinunterzusteigen. Einmal erloschen, ließ sie sich nicht wieder anzünden. Er würde in völliger, schwarzer Finsternis zurückbleiben.
Vorsichtig befreite er sich aus dem kleinen Erdrutsch, so behutsam, wie er einst im Burggraben des Hochhorsts nach Fröschen gepirscht hatte.
Sacht, sacht, ermahnte er sich selbst. Nicht das Dunkel! Ich brauche Licht. Wenn das Licht ausgeht, werden sie mich niemals finden.
Eine winzige Lawine kam ins Rollen. Erdklumpen polterten die Halde hinunter, und ein kleines Geriesel kam unmittelbar vor der Flamme zum Stehen. Sie zuckte. Simon stand beinah das Herz still.
Sacht. Sacht. Ganz sacht.
Als er die Hände in die bröckelnde Erde unter der Fackel grub, hielt er den Atem an und stieß ihn erst wieder aus, als er sie herausgehoben hatte. So schmal war die Grenze – tatsächlich nur der ausgefranste Rand eines Schattens – zwischen Finsternis und Licht.
Wieder machte er sich daran, die Fackel zu reinigen, verbrannte sich dieselben Finger, fluchte dieselben Flüche und stellte schließlich fest, dass die Scheide mit dem Qanucmesser noch immer an seinemBein festgebunden war. Nachdem er ein Dankgebet für diesen anscheinend ersten Glücksfall seit langem gesprochen hatte, beendete er seine Arbeit mit Hilfe der Knochenklinge. Er überlegte kurz, wie lange die Fackel wohl noch brennen würde, schob diesen Gedanken aber beiseite. Jedenfalls war klar, dass er keine Möglichkeit hatte, sich nach oben durchzugraben. Darum konnte er genauso gut dem Tunnel ein Stück folgen und abwarten, bis sich Binabik und Miriamel zu ihm hinuntergewühlt hatten. Auf jeden Fall gab es genügend Luft zum Atmen.
Als er die Fackel schräg hielt, damit sie wieder richtig brannte, kamen neue Erdmassen den kleinen Hang heruntergerollt. Simon war so beschäftigt, dass er gar nicht aufblickte. Erst ein zweiter Erdrutsch erregte seine Aufmerksamkeit. Er hielt die Fackel hoch und spähte in das verschlossene Tunnelende. Die Erde … bewegte sich …
Etwas wie ein winziger schwarzer Baum wuchs aus dem Boden, mit flachen, schlanken Zweigen. Gleich darauf spross ein zweiter daneben, und zwischen ihnen erzwang sich ein kleiner Klumpen den Weg nach oben. Es war ein Kopf. Blinde weiße Augen richteten sich auf Simon, Nüstern zuckten. Ein Mund öffnete sich zu etwas, das einem menschlichen Grinsen grausig ähnelte.
Dann schossen weitere Hände und Köpfe aus dem Sand. Simon, der sie vor Entsetzen gelähmt angestarrt hatte, erhob sich schwankend auf die Knie, Fackel und Messer hielt er schützend vor sich.
Bukken! Gräber! Seine Kehle war wie zugeschnürt.
Sie zählten vielleicht ein halbes Dutzend. Nachdem sie die lose Erde abgeschüttelt hatten, ballten sie sich zu einem Knäuel zusammen, das leise zirpte. Die dürren, haarigen Glieder waren so ineinander verschlungen und ihre Bewegungen so unruhig und hektisch, dass er sie nicht richtig zählen konnte. Er schwenkte ihnen die Fackel entgegen, und sie wichen zurück, aber nur ein Stück. Sie verhielten sich vorsichtig, hatten jedoch offensichtlich keine
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