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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Schläfen und presste sie zusammen, um den Druck zu verringern. Wie konnte man Zeuge solcher Dinge werden und nicht den Verstand verlieren?
    Finger berührten sein Handgelenk.
    Zu Tode erschrocken schnappte Eolair nach Luft, warf sich zur Seite und tastete nach seinem Schwert. Ein hoher Schatten verdunkelte den Zelteingang.
    »Friede, Graf Eolair«, grüßte Jiriki. »Ich bedaure, Euch erschreckt zu haben. Ich habe von außen gerufen, aber als ich keine Antwort bekam, glaubte ich Euch schlafend. Bitte verzeiht mein Eindringen.«
    Eolair fiel ein Stein vom Herzen, aber er war zornig und zugleich verlegen. »Was wünscht Ihr?«
    »Vergebt mir, ich bitte Euch. Ich kam, weil es wichtig und die Zeit kurz ist.«
    Der Graf schüttelte den Kopf und atmete tief ein. »Was gibt es? Ist etwas nicht in Ordnung?«
    »Likimeya bittet Euch zu kommen. Ihr werdet alles erfahren.«
    Er lüftete die Zeltklappe und trat wieder ins Freie. »Werdet Ihr kommen? Ich warte, bis Ihr Euch angekleidet habt.«
    »Ja … ja, natürlich.«
    Der Graf empfand einen gewissen gedämpften Stolz. Likimeya hatte ihren Sohn nach ihm geschickt. Da Jiriki in letzter Zeit nur mit Dingen von größter und entscheidender Wichtigkeit befasst war, musste den Sithi an seinem Kommen sehr viel liegen. Sofort verwandelte sich der Stolz in nagende Unruhe: Stand es so schlecht, dass die Sithi Ratschläge oder Führungshilfe von einem Mann brauchten, der über nicht mehr als vierzig verängstigte Krieger gebot? Er war so fest davon überzeugt gewesen, dass sie die Belagerung gewinnen würden!
    Es dauerte keine Minute, bis er den Schwertgurt umgeschnallt und die Stiefel und den pelzgefütterten Mantel angezogen hatte. Dann folgte er Jiriki den nebligen Berghang hinauf und staunte, dass der Sitha, so groß wie Eolair und fast ebenso breit, im Schnee nur leichte Abdrücke hinterließ, während seine eigenen Stiefel tiefe Löcher in die weiße Kruste brachen.
    Er schaute nach oben. Dort auf der Höhe kauerte Naglimund wie ein verwundetes Tier. Kaum vorstellbar, dass hier einmal Menschen gelebt hatten, die tanzten, plauderten und liebten. Manche von ihnen hatten Prinz Josuas Hof für ziemlich trostlos gehalten – aber ach, wie würde denen, die den Prinzen deshalb verspottet hatten, jetzt der Mund trocken werden, wie würde ihr Herz beben, wenn sie sahen, was wirkliche Trostlosigkeit hieß!
    Jiriki führte den Grafen durch die spinnwebdünnen Zelte der Sithi, Zelte, die, vom Mondlicht durchtränkt, im Schnee glänzten. Trotz der Stunde, zwischen Mitternacht und Morgengrauen, hielten sich viele vom Schönen Volk im Freien auf. Sie standen in kleinen Gruppen beieinander und blickten zum Himmel empor oder saßen am Boden und sangen leise Lieder. Der eisige Wind, der Eolair veranlasste, seine Kapuze dicht unter dem Kinn zusammenzuhalten, schien sie nicht zu stören. Der Graf hoffte, dass es bei Likimeya ein Feuer geben würde, und sei es auch nur aus Rücksicht auf die Hinfälligkeit eines menschlichen Besuchers.
     
    »Wir möchten Euch einige Fragen stellen über diesen Ort, den Ihr Naglimund nennt, Graf Eolair«, sagte Likimeya in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
    Eolair kehrte der Flamme den Rücken, um Jiriki, seine Mutter und den großen, schwarzhaarigen Kuroyi anzusehen. »Was kann ich Euch noch erzählen? Ihr habt schon alles von mir gehört.« Der Graf war ein wenig verärgert über die verwirrenden Gewohnheiten der Sithi, wobei es ihm jedoch schwerfiel, dieses Gefühl unter Likimeyas machtvollem, ruhigem Blick aufrechtzuerhalten. »Und ist es nicht recht spät für solche Fragen, nachdem die Belagerung nun schon vierzehn Tage andauert?«
    »Es sind nicht Dinge wie die Höhe von Mauern und die Tiefe vonBrunnen, die wir wissen müssen.« Jiriki setzte sich neben ihn. Der Stoff seines dünnen Hemdes glänzte. »Ihr habt uns schon viel Hilfreiches mitgeteilt.«
    »Ihr habt Euch in Naglimund aufgehalten, als der sterbliche Prinz Josua dort herrschte.« Likimeya sprach energisch, als missbillige sie den Versuch ihres Sohnes, diplomatisch vorzugehen. »Hat es Geheimnisse?«
    »Geheimnisse?«, fragte Eolair erstaunt. »Was meint Ihr damit?«
    »Es ist ungerecht dem Sterblichen gegenüber.« Kuroyi sprach mit einer so gleichmütigen Zurückhaltung, dass sie selbst unter den Sithi auffiel. »Er verdient mehr zu erfahren. Wäre Zinjadu am Leben geblieben, könnte sie ihm alles sagen. Da ich meiner alten Freundin nicht helfen konnte und sie nun mit den Ahnen reist,

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