Der Engländer
Gabriel sah nochmals bergab. Oded und Lavon hatten den Anruf ebenfalls gehört, denn sie hatten sich in Bewegung gesetzt und trabten den Weg herauf, um ihm zu Hilfe zu kommen.
Gabriel humpelte weiter
»Halt, sage ich! Stehenbleiben, oder ich schieße!«
Er hörte ein heiseres Knurren und drehte sich eben rechtzeitig um, um zu sehen, daß der Schäferhund, den der Hundeführer von seiner Leine losgehakt hatte, wie eine Lawine auf ihn zudonnerte. Hinter dem Hund war der Wachmann zu sehen, der eine Maschinenpistole in den Händen hielt.
Gabriel zögerte für Bruchteile einer Sekunde. Wen zuerst?
Hund oder Mann? Der Mann hatte eine Schußwaffe, sein Hund hatte scharfe Reißzähne, die ihn zerfleischen konnten. Als die Bestie ihn ansprang, riß er mit einer Hand seine Beretta hoch
und schoß auf den Hundeführer. Der Mann wurde mitten in die Brust getroffen und brach auf dem Weg zusammen.
Dann rammte der Hund seinen Schädel mit solche r Wucht gegen Gabriels Oberkörper, daß er zu Boden ging. Dabei knallte seine rechte Hand auf den hartgefrorenen Weg, und die Beretta glitt ihm aus den vor Kälte steifen Fingern.
Der Schäferhund wollte ihn sofort an der Kehle packen und verbiß sich dann in dem abwehrend erhobenen linken Arm.
Gabriel schrie gellend laut auf, als die scharfen Reißzähne durch den als Schutz wertlosen Jackenärmel drangen und sich ins Fleisch seines Unterarms gruben. Mit wütendem Knurren schlenkerte der Hund seinen mächtigen Schädel und versuchte, Gabriels Arm wegzuziehen, um ans weiche Fleisch seiner Kehle heranzukommen. Gabriel tastete mit seiner rechten Hand verzweifelt den Schnee ab, in dem irgendwo seine Beretta liegen mußte.
Der Hund biß noch fester zu, so daß ein Armknochen zersplitterte.
Gabriel schrie auf vor Schmerzen. Sie waren weit schlimmer als alles, was Gesslers Schläger ihm angetan hatten. Seine Rechte machte eine letzte bogenförmige Suchbewegung.
Diesmal bekam er den Griff der Beretta zu fassen.
Mit einem brutalen Ruck seines kräftigen Nackens schleuderte der Hund Gabriels zerbissenen Arm beiseite und wollte sich auf seine Kehle stürzen. Gabriel drückte die Pistolenmündung an die Rippen des Angreifers und schoß ihm dreimal ins Herz.
Dann schob er den Hundekadaver von sich weg und rappelte sich mühsam auf. Vom Chalet her waren laute Rufe zu hören, und Gesslers Hunde kläfften wild durcheinander. Er begann einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein linker Jackenärmel hing in Fetzen herab, und Blut lief ihm in breitem Strom über die Hand. Sekunden später sah er Eli Lavon, der den Weg herauf auf ihn zugerannt kam, torkelte ihm entgegen und fiel ihm in die Arme.
»Wir müssen weiter, Gabriel. Kannst du gehen?«
»Kann ich.«
»Oded, du stützt ihn von drüben. Mein Gott, was haben sie dir getan, Gabriel? Was haben sie dir angetan?«
»Ich kann allein gehen, Eli. Laß mich gehen.«
TEIL IV
Drei Monate später
48 - PORT NAVAS, CORNWALL
Das alte Lotsenhäuschen stand über einem schmalen Tidefluß: niedrig und fest und massiv gebaut wie ein Schiff, mit einer schönen zweiflügeligen Tür und Fenstern mit weißen Läden.
Gabriel kehrte an einem Montag zurück. Das Gemälde, ein niederländisches Altarbild aus dem vierzehnten Jahrhundert, Absender Isherwood Fine Arts, St. James's, London, traf am Mittwoch ein. Es steckte in einer sehr stabilen schützenden Holzkiste und wurde von zwei stämmigen Kerlen, die nach dem Bier rochen, das sie zum Mittagessen getrunken hatten, über die enge Treppe in Gabriels Atelier hinaufgeschleppt. Gabriel vertrieb den Bierdunst, indem er die Fenster aufriß und ein Fläschchen mit einem stark riechenden Lösungsmittel aufschraubte.
Gabriel ließ sich beim Auspacken des Gemäldes Zeit. Wegen seines Alters und seiner Beschädigungen war es nicht in nur einer Kiste, sondern in zweien versandt worden - die innere Kiste sicherte das Gemälde strukturell, während die äußere es vor schädlichen Einflüssen während des Transports bewahrte.
Zuletzt entfernte er die Schaumstoffpolster, streifte die schützenden Seidenpapierschichten ab und stellte das Werk auf seine Staffelei.
Vor ihm stand das Mittelstück eines Triptychons, ungefähr neunzig mal sechzig Zentimeter groß, Öl auf drei aneinandergeleimten Eichenbrettern mit senkrechter Maserung - höchstwahrscheinlich baltische Eiche, das bevorzugte Holz der flämischen Meister. Auf einem kleinen Notizblock machte er sich diagnostische Notizen: starke konvexe Wölbung,
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