Der Engländer
ein?« fuhr ihr Vater sie an. »Wie oft habe ich dich schon gebeten, meine geschlossene Tür zu respektieren? Siehst du nicht, daß ich mitten in einem wichtigen Gespräch bin?«
»Aber, Papa…«
»Und zieh dich gefälligst anständig an! Zehn Uhr morgens, und du läufst noch immer im Morgenrock herum.«
»Papa, ich muß…«
»Das kann warten, bis ich fertig bin.«
»Nein, das kann es nicht, Papa!«
Sie kreischte so laut, daß der Mann mit der Sonnenbrille zusammenzuckte.
»Tut mir leid, Otto, aber ich fürchte, die Manieren meiner Tochter haben unter zu vielen einsamen Übungsstunden mit ihrem Instrument gelitten. Entschuldigst du mich bitte? Ich bin gleich wieder da.«
Anna Rolfes Vater behandelte wichtige Schriftstücke sorgfältig, und der Abschiedsbrief, den er aus dem Grab aufhob, bildete keine Ausnahme. Sobald er ihn gelesen hatte, hob er ruckartig den Kopf und sah sich mit flackerndem Blick um, als fürchte er, jemand habe über seine Schulter hinweg mitgelesen.
Das beobachtete Anna vom Fenster ihres Zimmers aus.
Als er sich abwandte, um in die Villa zurückzugehen, sah er zu ihrem Fenster auf und begegnete Annas Blick. Er blieb stehen, erwiderte ihn einige Sekunden lang. Aus ihren Augen sprach kein Mitgefühl. Oder Erbarmen. Ihr Blick war mißtrauisch.
Sie wandte sich vom Fenster ab. Die Stradivari lag noch dort, wo sie ihr aus der Hand gefallen war. Sie hob die Violine auf.
Von unten war zu hören, wie ihr Vater seinem Gast ruhig mitteilte, seine Frau habe Selbstmord verübt. Sie hob die Violine unter ihr Kinn, legte den Bogen auf die Saiten, schloß die Augen. G-moll. Verschiedene auf-und absteigende Läufe.
Arpeggios. Gebrochene Triolen.
»Wie kann sie unter diesen Umständen nur spielen?«
»Sie kann nicht viel anderes, fürchte ich.«
Später Nachmittag. Die beiden Männer waren wieder im Arbeitszimmer allein. Die Polizei hatte ihre vorläufigen Ermittlungen abgeschlossen, und die Leiche war abtransportiert worden. Der Abschiedsbñef lag auf dem Klapptisch zwischen den beiden.
»Ein Arzt könnte ihr ein Beruhigungsmittel geben.«
»Sie will keinen Arzt. Ich fürchte, sie hat das Naturell ihrer Mutter geerbt - und den Starrsinn ihrer Mutter.«
»Hat die Polizei gefragt, ob ein Abschiedsbrief gefunden wurde?«
»Ich sehe keinen Grund, die Polizei mit den persönlichen Dingen dieser Familie zu befassen, vor allem nicht, wenn es um den Selbstmord meiner Frau geht.«
»Und deine Tochter?«
» Was ist mit meiner Tochter?«
»Sie hat alles vom Fenster aus beobachtet.«
»Meine Tochter ist meine Sache. Mit ihr gehe ich um, wie ich es für richtig halte.«
»Das will ich hoffen. Aber tu mir einen kleinen Gefallen, ja?«
»Welchen denn, Otto?«
Die blasse Hand des Gasts schlug mehrmals leicht auf den Tisch, bis sie zuletzt auf dem Abschiedsbrief ruhte.
»Verbrenn dieses verdammte Ding gemeinsam mit allem anderen. Sorg dafür, daß niemand mehr über irgendwelche unangenehmen Erinnerungen an die Vergangenheit stolpern kann. Wir sind hier in der Schweiz. Es gibt keine Vergangenheit.«
TEIL I - Gegenwart
1 - LONDON - ZÜRICH
Die zeitweise zahlungsfähige Galerie Isherwood Fine Arts hatte einst in bester Lage in der eleganten New Bond Street in Mayfair residiert. Dann wurde London zu einer beliebten Einkaufsstadt, und die New Bond Street - oder New Bondstraße, wie die Branche sie verächtlich nannte - wurde von Tiffany und Gucci und Versace und Mikimoto und ihresgleichen okkupiert.
Julian Isherwood und andere Kunsthändler, die auf Alte Meister in Museumsqualität spezialisiert waren, mußten nach St. James ins Exil gehen - in die Bond-Street-Diaspora, wie Isherwood sie gern bezeichnete. Er ließ sich schließlich in einem leicht baufälligen viktorianischen Lagerhaus an einem als Mason's Yard bekannten stillen Innenhof nieder. Dort waren seine Nachbarn die Londoner Niederlassung einer unbedeutenden griechischen Reederei und ein Pub, in dem hübsche Büroangestellte verkehrten, die Motorroller fuhren.
Unter den inzestuösen, verleumderischen Bewohnern von St. James galt Isherwood Fine Arts als ein Etablissement, das immer gutes Theater bot. Isherwood Fine Arts garantierte Drama und Spannung, Komödien und Tragödien, erstaunliche Höhenflüge und scheinbar bodenlose Tiefstände. Alles das war zum größten Teil auf die Persönlichkeit des Inhabers zurückzuführen. Er litt unter einem für einen Kunsthändler fast tödlichen Makel: Er besaß Kunst viel lieber, als daß er sie
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