Der Engländer
und die Schmerzen kehrten noch ungestümer zurück, als hätten sie die Atempause dazu benützt, ihre Kräfte für einen neuen Angriff zu sammeln. Jeder Nerv seines Körpers schien zur selben Zeit Schmerzsignale zu übermitteln. Das überlastete sein Gehirn, und er begann zu zittern - ein heftiges, unkontrollierbares Zittern, das die Schmerzen noch verstärkte.
Er war dicht davor, sich zu übergeben, aber er betete darum, daß ihm das erspart bleiben würde; er wußte, daß die damit verbundenen Muskelkontraktionen neue schreckliche Schmerzen ausgelöst hätten.
Gabriel suchte wieder nach einem sicheren Hafen für seine Gedanken, aber jetzt drängten sich die Erinnerungen an Otto Gessler und seine Sammlung störend in den Vordergrund. Der blinde Alte in seinem Bademantel und mit seiner Sonnenbrille; Säle auf Säle mit von den Nazis geraubten Kunstwerken. Er fragte sich, ob das alles wahr oder nur eine Nebenwirkung des Mittels gewesen war, das die Wachmänner ihm zu schlucken gegeben hatten. Nein, dachte er, es ist wahr. Seine Sammlung hängt hier, knapp außerhalb meiner Reichweite. Knapp außerhalb der Reichweite der gesamten Welt.
Dann ging die Tür auf, und Gabriels Körper verkrampfte sich unwillkürlich. Wer war das? Gesslers Schergen, die mit dem Auftrag kamen, ihn zu liquidieren? Gessler selbst, der kam, um ihm weitere Säle voller verloren geglaubter Meisterwerke zu zeigen? Als etwas Licht in seine Zelle fiel, erkannte Gabriel jedoch, daß weder Gessler noch seine Schergen hereinkamen.
Der Besucher war Gerhardt Peterson.
»Können Sie aufstehen?«
»Nein.«
Peterson ging vor ihm in die Hocke. Er zündete sich eine Zigarette an und studierte lange Gabriels Gesicht. Was er darin sah, schien ihn zu betrüben.
»Es ist wichtig, daß Sie aufzustehen versuchen.«
»Warum?«
»Weil sie bald kommen werden, um Sie zu ermorden.«
»Worauf warten sie noch?«
»Dunkelheit.«
»Wozu brauchen sie Dunkelheit?«
»Sie wollen Ihre Leiche auf den Gletscher schaffen und in eine Spalte werfen.«
»Das ist beruhigend. Ich dachte, sie würden mich einfach in eine Stahlkassette stopfen und in einem von Gesslers Bankschließfächern deponieren.«
»Diese Möglichkeit war auch im Gespräch.« Ein humorloses kleines Lachen. »Ich habe Sie davor ge warnt, hierherzukommen. Mit dem werden Sie nicht fertig, habe ich Ihnen gesagt. Sie hätten auf mich hören sollen.«
»Sie haben immer recht, Gerhardt. Sie hatten in jeder Beziehung recht.«
»Nein, nicht in jeder.«
Peterson griff in eine Jackentasche und zog Gabriels Beretta heraus. Er legte die Waffe auf seine Handfläche und hielt sie Gabriel wie eine Opfergabe hin.
»Was soll das?«
»Nehmen Sie sie.« Er bewegte seine Hand etwas. »Na los, nehmen Sie sie schon!«
»Wozu?«
»Weil Sie sie brauchen werden. Ohne sie haben Sie absolut keine Chance, hier lebend rauszukommen. Mit ihr schätze ich Ihre Chancen wegen Ihrer schlechten Verfassung auf nur eins zu drei ein. Trotzdem ist's einen Versuch wert, finden Sie nicht auch? Los, nehmen Sie die Pistole, Gabriel!«
Die Beretta war von Petersons Hand warm. Die Griffschalen aus Walnußholz, der Abzug, der Lauf - alles zusammen ergab den ersten tröstlichen Gegenstand, den er in Gesslers Chalet berührt hatte.
»Tut mir leid, daß die Kerle Sie zusammengeschlagen haben.
Das konnte ich nicht verhindern. Als ›Maulwurf‹ muß man manchmal schlimme Dinge tun, um die Leute, die man täuschen will, davon zu überzeugen, daß man's ehrlich meint.«
»Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie als erster zugeschlagen.«
»Ich hatte noch nie einen Mann geschlagen. Für mich war das vermutlich schmerzhafter als für Sie. Außerdem brauchte ich Zeit.«
»Zeit wofür?«
»Um die Vorbereitungen für Ihre Flucht zu treffen.«
Gabriel ließ das Magazin in seine Hand gleiten und überzeugte sich davon, daß die Waffe geladen und nicht nur eine weitere Betrügerei Petersons war.
»Gessler hat offenbar eine beachtliche Sammlung«, sagte Peterson.
»Sie haben sie nie gesehen?«
»Nein, dazu hat er mich nie eingeladen.«
»Stimmt das wirklich? Ist sein Chalet tatsächlich eine Bank?
Kann hie r wirklich niemand rein?«
»Das ganze Land ist eine Bank, Gabriel.« Peterson griff nochmals in seine Jackentasche. Diesmal holte er ein halbes Dutzend Tabletten heraus. »Hier, schlucken Sie die. Schmerztabletten. Die werden Sie brauchen.«
Gabriel würgte alle Tabletten auf einmal hinunter, dann rammte er das Magazin in den
Weitere Kostenlose Bücher