Der Engländer
triumphalen Erfolg in Venedig begab sie sich auf eine ausgedehnte Tournee durch ganz Europa, bei der sie Soloabende gab oder mit den berühmtesten Orchestern des Kontinents auftrat. Obwohl manche Journalisten darüber klagten, daß sie sich weigerte, Interviews zu geben, war die Kritik sich darüber einig, sie habe sich ihr Feuer und ihre Brillanz trotz aller persönlichen Schicksalsschläge bewahrt. In bezug auf die neuen Fragen im Zusammenhang mit dem Tod ihres Vaters gab sie eine Presseerklärung heraus, die alle Frager an einen Züricher Anwalt verwies. Dieser Anwalt weigerte sich hartnäckig, das Thema Rolfe auch nur zu diskutieren, indem er auf den Schutz von Anna Rolfes Privatsphäre und noch laufende Ermittlungen verwies. Und dabei blieb es, bis das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Fall abflaute.
Gabriel hob den Kopf und sah durchs Oberlicht. Ohne daß er es bisher bemerkt hatte, hatte der Regen aufgehört. Während er sein Atelier aufräumte, hörte er den Wetterbericht von Radio Cornwall: bis zum Abend kein Regen, zwischendurch etwas Sonnenschein und Februartemperaturen, die für die Küste von Cornwall angemessen waren. Auch wenn sein Arm erst vor kurzem verheilt war, wußte Gabriel, daß ein paar Stunden auf dem Wasser ihm guttun würden.
Er zog seine gelbe Öljacke an, füllte in der Küche eine Thermosflasche mit Kaffee und machte sich Sandwiches.
Wenige Minuten später machte er die Leinen seiner Ketsch los, legte von der Pier ab und steuerte das Boot mit Hilfsmotor auf dem Port Navas Creek zum Heiford River hinunter. Der Wind blies stetig aus Nordwest, helles Sonnenlicht glitzerte auf den kleinen Wellen und leuchtete auf den grünen Hügeln beiderseits der Heiford-Passage. Gabriel arretierte das Ruder und setzte Großsegel und Fock; dann stellte er den Motor ab und ließ den Wind das Boot vorwärtstreiben.
Und es dauerte nicht lange, bis er Ruhe fand. Gabriel wuß te, daß dies nur ein vorübergehender Zustand war diese Ruhe würde nur anhalten, bis er die Augen schloß oder seinem Geist gestattete, allzu lange untätig zu bleiben -, aber im Augenblick konnte er sich auf das Heben und Senken des Boots unter ihm konzentrieren, statt an die Mißhandlungen, die er erlitten, oder die Dinge, die er gesehen hatte, denken zu müssen. Lag er nachts manchmal in seinem schrecklich einsamen Bett wach, fragte er sich, wie er mit diesem Wissen würde weiterleben können - dem Wissen, das Otto Gessler ihm so grausam anvertraut hatte. In Augenblicken der Schwäche dachte er daran, selbst vor die Medien der Welt zu treten, seine Geschichte zu erzählen oder ein Buch darüber zu schreiben. Aber er wußte, daß Gessler sich einfach hinter dem Schweizer Bankgeheimnis verschanzen und er selbst dann wie irgendein weiterer Flüchtling aus der Welt der Geheimdienste wirken würde, der mit einer unausgego renen Verschwörungstheorie hausieren ging.
Kurz vor August Rock sah er nach Westen und entdeckte in einer hoch aufgetürmt heranziehenden Wolkenformation etwas, das ihm nicht gefiel. Er ging rasch in die Kajüte hinunter und schaltete seinen Seefunkempfänger ein. Tatsächlich zog ein Sturm heran: starker Regen, Seegang sechs bis acht. Gabriel trat wieder ans Ruder, wendete das Boot und setzte nun auch das Besanstagsegel. Darauf nahm die Ketsch sofort Fahrt auf.
Bis er die Mündung des Heiford Rivers erreichte, goß es in Strömen. Gabriel schlug die Kapuze seiner Öljacke hoch und machte sich daran, die Segel zu bergen - erst das Besanstagsegel, dann Fock und Großsegel. Er ließ den Hilfsmotor an und steuerte das Boot flußaufwärts. Dabei begleitete ihn ein ganzer Schwarm Möwen, die um Futter bettelten. Gabriel teilte sein zweites Sandwich in kleine Stücke, die er ins Wasser warf.
Er passierte die alte Austernbank, umrundete die Landzunge und lief ins ruhige Wasser des Tideflusses ein. Die Bäume wichen zurück, und das Dach seines Häuschens kam in Sicht.
Als er näher kam, konnte er auf der Pier eine Gestalt stehen sehen, die ihre Hände in den Manteltaschen vergraben und den Kragen als Regenschutz hochgeschlagen hatte. Gabriel hastete den Niedergang hinunter und griff sich das Zeiss-Glas, das am Haken neben der Kombüse hing. Er hob das Glas, stellte es auf den Mann scharf und setzte es sofort wieder ab. Das Gesicht des Mannes war so markant, daß ein Blick genügte, um seine Identität zu verifizieren.
Ari Schamron saß an dem kleinen Küchentisch, während Gabriel ihnen Kaffee kochte.
»Sie
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