Der entgrenzte Mensch
des Rechnens und Messens geschuldet. In der Faszination des Rechnens und Messens liegt allerdings nicht der einzige Grund dafür, dass alles Berechenbare so viel Aufmerksamkeit erhält bzw. den Dingen bevorzugt hinsichtlich ihrer Berechenbarkeit Aufmerksamkeit zu Teil wird.
Die in Kapitel 3 bereits erwähnten Erkenntnisse Stephen Gudemans zum Preisfetischismus in der Marktgesellschaft erklären, warum alles, was von menschlichen Beziehungsgrößen befreit ist, plausibel und rational erscheint. Nach Gudeman (2008, S. 64) drückt sich der Preisfetischismus in einem das gesamte gesellschaftliche und persönliche Leben durchdringenden Zahlenfetischismus aus. Wie sonst - um ein unverdächtiges Beispiel zu wählen - kann man sich erklären, dass die »Kachelmanns« des Wetterberichts im Fernsehen ihre Zuschauer mit Zahlenreihen über Niederschläge, Höchst- und Niedrigsttemperaturen und Sonnenscheindauer beglücken und dabei die Sieger im Ranking um den sonnigsten oder frostigsten Ort in Deutschland ermitteln? Auch wenn es paradox klingen mag: Der stärkste Antrieb für glückspielsüchtige Menschen ist ihre Fantasie, das Glück berechnen zu können.
In sozialpsychologischer Perspektive haben die Faszination für alles Berechenbare und der Zahlenfetischismus Schattenseiten, von denen hier zwei erwähnt sein sollen. Je mehr die Faszination für alles Berechenbare durch die Medien verstärkt wird (die immer mehr einem Zahlenfetischismus huldigen), desto stärker etabliert sich bei den Vielen eine selektive Wahrnehmung: Alles, was nicht berechnet werden kann, erscheint als unwissenschaftlich, keiner Nachricht wert und droht auch nicht mehr wahrgenommen zu werden. Um es etwas platter auszudrücken: Was sich nicht in Zahlen, Raten, Anteilen und Prozentwerten ausdrücken lässt, gibt es nicht. Das Licht der Welt erblickt nur, was sich in Zahlen ausdrücken lässt. Darum wird auf der Geburtsanzeige vermerkt, dass Leon bei der Geburt 48,5 cm groß und 3963 Gramm schwer war.
Die zweite fragwürdige Auswirkung des Angezogenseins vom entgrenzten Rechnen und Messen hat mit der bereits angesprochenen Quantifizierung sämtlicher Lebensbereiche zu tun. Alles soll berechnet werden können, auch das Unwägbare, nur Gefühlte, die Stimmung, die menschliche Atmosphäre, das Intuitive, die »Chemie« in einer Beziehung, das liebevolle Vermögen, die Fähigkeit zu trauern, die Unsicherheit des Lebens, die Glaubwürdigkeit und Authentizität eines Menschen. Was immer Begleiterscheinung und Wirkung eines lebendigen Vollzugs sind, muss hierzu in ein Ding, in etwas Lebloses und Totes verwandelt werden, denn nur Dinge und das zum Zwecke des Messens Verdinglichte lässt sich messen und dann berechnen. Der Fetischismus des Dinglichen und Berechenbaren ist dann zumeist mit einer Verdinglichung des Lebendigen gepaart (vgl. Funk 2004, S. 86-88).
Eben weil alles Sinnen und Trachten auf das Rechnen und Zählen und auf das Anhäufen von Zahlen zielt, kann eine Grundstrebung entstehen, bei der Menschen vom Leblosen, weil Berechenbaren, mehr angezogen werden als vom Lebendigen und Unberechenbaren. Erich Fromm hat diese Grundstrebung »Nekrophilie«, Angezogensein vom Leblosen, genannt (Fromm 1964; 1973). Verdrängt das Angezogensein vom Toten die Attraktivität des Lebendigen und den Wunsch, das Lebendige, wenn auch Unberechenbare, zu erhalten, dann zeitigt entgrenztes Rechnen und Messen eine destruktive Wirkung, sobald versucht wird, Vollzüge des menschlichen Lebens berechnen zu wollen. Entgrenztes Rechnen führt dann zu einer Entgrenzung des Lebens, bei dem das, was am Leben lebendig ist, auf der Strecke bleibt. Der mit allen Zeichen der Zuneigung praktizierte Begrüßungskuss ist dann sehr wohl berechnend und tritt an die Stelle eines liebenden Gefühls. Und die Mutter versucht ihre Liebe zum Kind daran zu messen, wie viel Zeit sie für Gutenachtgeschichten aufgewendet und wie oft sie mit dem Kind gekuschelt hat.
GRENZENLOSE INDIVIDUALISIERUNG UND ENTGRENZTES VERBUNDENSEIN
Das gesellschaftliche und das zwischenmenschliche Bezogensein ist in den letzten Jahrzehnten einer Entgrenzungsdynamik ausgesetzt gewesen, in der fast alle Bezüge, die durch überkommene Ordnungsstrukturen definiert waren, »enttraditionalisiert« wurden. Mit dieser Entgrenzung des Sozialen und der damit verbundenen Wertorientierungen ging eine Individualisierung einher, die dem Einzelnen die volle Freiheit für die Gestaltung seines Lebens nach seinen eigenen Vorstellungen,
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