Der entgrenzte Mensch
Mehrwertsteuereinnahmen des Fiskus oder auf das Transportgewerbe hat, ist ebenso eine Frage des gekonnten Rechnens wie der Inhalt einer Pressemeldung, wonach die Vorstandsmitglieder der im Dax notierten Unternehmen 1987 im Schnitt 14 mal so viel verdienten wie der
Durchschnitt der bei ihnen Beschäftigen, während sie sich 2006 gar 44 mal mehr Einkommen gewährten als dem Beschäftigtendurchschnitt.
Der Leistungsfähigkeit digitaler Rechner ist es zu verdanken, dass nicht nur Vermutungen, sondern Hochrechnungen und wissenschaftliche Prognosen möglich sind. Prognostische Szenarien etwa hinsichtlich der klimatischen Veränderungen und der Erderwärmung in Abhängigkeit von Hunderten von Variablen sind umso besser möglich, je größer die Rechenleistung der Großcomputer ist. Das Problembewusstsein bezüglich der großen Menschheitsprobleme - Überbevölkerung, Hunger, Armut, Krankheit, Klimaentwicklung, Energiebedarf und Rohstoffmangel - ist in erster Linie das Ergebnis von Berechnungen. Dass umgekehrt andere große Menschheitsprobleme wie die Entwertung, Entfremdung und Entwurzelung vieler Menschen nicht als solche erkannt werden, hat vor allem damit zu tun, dass sie kaum quantifizierbar - also messbar - und deshalb auch nicht berechenbar sind.
Dies verweist auf die Frage des Messens und seiner Entgrenzung. Messen ist grundsätzlich etwas anderes als Berechnen, obwohl die gemessenen Werte in der Regel erst dadurch zu Erkenntnissen und Nutzungsmöglichkeiten führen, dass mit ihnen gerechnet wird. Unter den Faktoren, die zu einer Entgrenzung des Messens beitragen, sind neue optische, elektrische, elektronische, funktechnische, radiologische oder chemische Messmethoden zu nennen, aber auch die Entdeckung, Entwicklung und Festlegung von neuen Messwerten. Beeindruckt bei der Entgrenzung des Rechnens die Menge der Zahlen und der Rechenoperationen, so bei der Entgrenzung des Messens vor allem die Genauigkeit und die Möglichkeit des Messens in Bereichen, die dem Messen bisher unzugänglich waren.
Dabei wird die Genauigkeit nicht nur durch neue Messmethoden erzielt, sondern auch durch Rechenleistung, etwa wenn nicht nur eine Messung durchgeführt wird, sondern hunderte, um über die Quantifizierung des Messens zu genaueren Ergebnissen zu
kommen. Die meisten neuen Messverfahren, mit denen die Tiefen des Weltraums oder der Mikrowelt vermessen werden können, basieren jedoch auf der Ermittlung von neuen Messwerten (wie etwa radioaktiven Halbwertszeiten, Isotopenverhältnissen), die eine Berechnung möglich machen.
Dieses in Naturwissenschaft und Technik erfolgreiche Vorgehen wird auch in den empirischen Sozialwissenschaften und in der empirischen Psychologie zur Anwendung gebracht, um bisher nicht messbare Bereiche messen und also quantifizieren zu können und sie damit einer Berechnung zugänglich zu machen. Die häufigsten Messwerte sind hier »Meinungsäußerungen«, »Verhaltensweisen« und »Einstellungen« (in der Psychologie) bzw. »Habitus« (in der Soziologie), während die Messwerte »Persönlichkeit(smerkmale)« und »Charakterorientierungen« je nach psychologischem Ansatz als nicht quantifizierbar gelten und nur mit tiefenhermeneutischen oder anderen qualitativen und interpretationsbedürftigen Untersuchungsmethoden einer Auswertung zugeführt werden können.
Tatsächlich sind unterschiedliche Aspekte der menschlichen Produktivität nicht wirklich messbar und berechenbar. Zu nennen ist etwa die künstlerische Kreativität, die empathische Fähigkeit von Ärzten, Sozialarbeitern, Beratern und Therapeuten (wenn auch Empathie in den Spiegelneuronen biologisch angelegt ist), das Vorstellungsvermögen von Kindern, die intrinsische Motiviertheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die menschliche Ausstrahlung eines Abteilungsleiters. Natürlich werden solche Grenzen des Messens von jenen, deren Forschen von den Möglichkeiten entgrenzten Rechnens geleitet wird, heftig bestritten und wird mit quantifizierbaren Messwerten und »raffinierten« Items auch die menschliche Produktivität der Berechenbarkeit zugeführt.
Die »Vermessenheit des Messens« (Kalcher 2000) sozialer Arbeit, aber auch künstlerischen, ärztlichen, erzieherischen, bildnerischen, therapeutischen und pflegenden Tuns kommt heute getarnt im Gewand von Wissenschaftlichkeit und Rationalität
daher und wird mit dem allgegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftlichkeitsgebot zwangsverordnet. Und doch ist sie vor allem der Faszination der Entgrenzung
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