Der entgrenzte Mensch
Jugendlichen den Gebrauch des Handys zu verunmöglichen. Sie kommt einer Isolationshaft gleich. Die Frage des Besitzes, der Finanzierung und des Gebrauch eines Mobilfons ist ebenso von existenzieller Bedeutung wie die Frage des Zugangs zu Chatrooms und virtuellen Kontakten, und zwar nicht nur bei jüngeren Menschen.
Die Entgrenzung des Sozialen, mit der soziale Abhängigkeiten überwunden werden sollen, führt in psychologischer Perspektive zu einem höchst existenziellen Problem. Statt das Verbundensein mit eigenen emotionalen Bindungskräften herzustellen und zu sichern, muss der Zugang zu Kontaktmedien und die Verfügung über sie gesichert werden, was faktisch nichts anderes als eine Abhängigkeit von Kontaktmedien bedeutet.
INSZENIERUNG ENTGRENZTER WIRKLICHKEITEN
Der für das menschliche Selbsterleben und Zusammenleben eindrucksvollste und folgenreichste Entgrenzungsvorgang resultiert aus der mit der digitalen Technik und der Vernetzung möglich gewordenen Entgrenzung der Realität mit Hilfe der elektronischen Medien. Die bereits angesprochene Entgrenzung durch die Produktion von Wirklichkeiten in Gestalt von Lifestyles, Gefühlswelten, Erlebnissen usw. wird in erster Linie über die elektronischen Medien vermarktet. Sie ermöglichen so gut wie allen Menschen einen auditiven und vor allem einen visuellen Zugang zu inszenierten Wirklichkeiten .
Natürlich kann man auch über die gezielte Produktion von Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen in eine andere Welt versetzt werden, und zweifellos erzeugt eine bestimmte Gewebemischung, Webart oder Imprägnierung bei Kleidungsstücken das Gefühl, permanent gestreichelt zu werden. Die Möglichkeit, mit Hilfe der elektronischen Medien über das Hören und Sehen mit inszenierten Wirklichkeiten in Kontakt kommen und in sie eintauchen zu können, hat eine ungleich größere Bedeutung, wenn es um die Entgrenzung der Realität geht.
Spätestens mit den bildgebenden Verfahren gehört es zum gesicherten Wissen, dass jede Realitätswahrnehmung eine Konstruktion unseres Gehirns ist (und deshalb von zahlreichen historischen - individuellen, gesellschaftlichen, kulturellen - Bedingungen abhängt). Veranlasst wird sie entweder durch äußere oder durch innere Reize. Bei den äußeren Reizen sind es vor allem die sinnlichen Wahrnehmungen, die das Gehirn dazu bringen, bestimmte bildhafte Vorstellungen (Symbolisierungen) der Realität zu erzeugen (und den Menschen und seine Reaktionssysteme zu willkürlichen und unwillkürlichen Antworten veranlassen). Bei den inneren Reizen, die zu einer Realitätswahrnehmung Anlass geben, sind bewusste und unbewusste Vorstellungen, Gefühle,
Strebungen, Impulse zu nennen. Sie veranlassen uns zu träumen, Visionen, Ideen und Einfälle zu haben, etwas intuitiv zu erstreben oder zu vermeiden, die Realität angemessen, ängstlich, schüchtern, zwanghaft oder gar verrückt wahrzunehmen.
Was also ist damit gemeint, dass die elektronischen Medien entscheidend zu einer Entgrenzung der Realität beitragen? In psychologischer Perspektive muss die vorstehende Erklärung der neuronalen Realitätskonstruktion noch präzisiert werden. Mit der Ausbildung von affektiv besetzten Vorstellungsinhalten im zweiten Lebensjahr - das heißt, wenn ein Kind auf die glühende Keramikherdplatte deutet und ängstlich »heiß, heiß« sagen kann - beginnt ein Entwicklungsprozess, bei dem für die unterschiedlichsten Wahrnehmungen und Erfahrungen innere Bilder und Repräsentanzen abgespeichert werden (Dornes 1997), die man auch, je nach ihrer Funktion, als unterschiedliche Gedächtnissysteme (Markowitsch 2009) und Erinnerung sbilder verstehen kann.
Solche inneren Bilder werden auch bei jedem äußeren Reiz »angesprochen«. Der dabei durchgeführte »Abgleich« zielt in erster Linie darauf, Bekanntes wiederzuerkennen und also den Reiz im Sinne der inneren Realitätsabbildungen zu verarbeiten. Erkennt das Gehirn Vertrautes, dann kommt es zu einer bestätigenden Realitätswahrnehmung. Fehlt ein entsprechendes inneres Vorstellungs- oder Erfahrungsbild oder differiert es, dann ist das Gehirn auf Grund seiner nutzungs- und erfahrungsabhängigen Plastizität auch zu einer Neubildung oder Bildveränderung fähig, so dass es auf Grund dieser Lernfähigkeit des Gehirns zu einer veränderten Realitätskonstruktion kommen kann. Immer ist dabei das Bestreben einer Realitätskontrolle (Realitätsprüfung) erkennbar, bei dem äußere und innere Realität in Übereinstimmung gebracht werden
Weitere Kostenlose Bücher